Toleranz - ein Auslaufmodell?
Toleranz – ein Auslaufmodell?

Die inflationäre Berichterstattung über islamische Jihad-Bewegungen treibt bedenkliche Früchte. Nicht alleine Politiker überbieten sich mit hektisch ausgedachten Forderungen. Es gibt auch in Panik geratene Essayisten, die das Ende der Toleranz für unausweichlich halten und liberale Tageszeitungen, die solchen Stimmen eine Bühne gewähren.

Von Abdel Azziz Qaasim Illi  


Stephan Wehowsky schreibt heute in der NZZ, vor dem Hintergrund der immer ultimativer geführten Diskussion um IS und andere islamische Jihad-Bewegungen, über die Notwendigkeit einer Akkommodation des europäischen Denkens. Seinem Dafürhalten nach herrsche in Europa bisher ein Denkmuster vor, welches auf dem «herkömmlichen liberalen» Toleranzkonzept fusse. Angesichts der neuen «fundamentalen Bedrohung unserer Gesellschaften» durch «religiös motivierte Fanatiker» sei «die Zeit für geistreiche interreligiöse Gespräche zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses erst einmal abgelaufen». Neu ginge es darum, dass ein «posttolerantes» Denken Einzug halte. Damit meint Wehowsky die nachträgliche moralische Legitimation jenes in der Realität freilich bereits gut etablierten Denkens, welches namentlich zulasse, dass «Hassprediger» ausgewiesen und Konsumenten von Hasspredigten z.B. auf Youtube unter Beobachtung gestellt würden. Ist das nicht längst gängige Praxis? Stellt dies überhaupt jemand grundsätzlich in Frage (wenn es sich denn wirklich um «Hassprediger» handelt)?

Liest man den Kommentar nicht zu Ende, beschleicht einen das Gefühl, der Autor lebe in einer idealtypischen, klassisch-toleranten Traumgesellschaft, in der es keinen Rassismus, keinen Antisemitismus und keinerlei Islamophobie gebe. Erst die «fundamentale Bedrohungslage» durch den irgendwie trotz aller reklamierten Friedlichkeit unberechenbaren Muslim, erfordert eine angemessene Reaktion – eben den Übergang von der naiven Toleranz zur «Posttoleranz» – will heissen zur qualifizierten Intoleranz und dies subito, denn «wir sind fundamental bedroht und können unsere Türen nicht mehr so wie früher offen halten.»

Ein zwar wirr geschriebenes aber durchaus deutliches Plädoyer für noch mehr Intoleranz – anders lässt sich der Begriff der «Posttoleranz» aus der Gegenwartsperspektive nicht deuten! Als ob Europa so fundamental bedroht wäre, dass es die Grundidee seiner noch jungen freiheitlichen Ordnung bereits wieder auf den Misthaufen der Geschichte werfen müsste. Liest man über die Motive jener Muslime, die Europa verlassen haben, um sich am Kampf in der Reihen der IS zu beteiligen, trifft man immer wieder auf dieselben Argumente: Rassismus und Islamophobie, ob reell erlebt oder nur empfunden, in ihrer Perspektive ist es gerade ein Zuviel an Intoleranz, was sie ihrer Gesellschaft entfremdet hat: Minarett-Verbot, Niqab- und Kopftuchverbote, Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder die permanent negative Darstellung des Islams in den europäischen Medien.

Doch der Autor trifft den Zeitgeist. Mit oder ohne moralische Rechtfertigung erscheint Toleranz als ein Wert, dessen Wert in Vergessenheit zu geraten droht. Was es heisst, in einer «posttoleranten» europäischen Gesellschaft zu leben, will ich nicht erproben. Zu präsent sind die Erinnerungen an dunkle prä- wie posttolerante Zeiten, die angesichts solcher Aufsätze in der NZZ auf einmal wieder bedrohlich nahe scheinen.

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