Nun hat Ihre Delegation auf der letzten Reise im Oktober in Syrien Kurban-Schafe verteilt, jedoch nicht nur...
Die Kurban-Aktion war wirklich sehr gut angekommen. 237 Schafe konnten über zwei Tage hinweg geschlachtet und deren Fleisch an Bedürftige im Umland von Idlib verteilt werden. Danach war diese Mission abgeschlossen. Naim Cherni und seine Begleiter nutzten die verbleibenden Tage, um sich in den befreiten Gebieten Westsyriens ein Bild der aktuellen Lage zu machen. Sie besuchten u.a. Nordaleppo, wo die Rebellen ihre Stellungen gegen den IS verteidigen, erlebten hautnah wie die sozialistischen Kurden aus dem Aleppoer Stadtteil Shaykh Maqsûd die Zufahrtsstrasse zur Metropole unter Beschuss nahmen oder verbrachten bange Stunden im Freien, als die Russen das Umland Idlibs zu bombardieren begannen. Ich bin schon froh, dass sie unversehrt zurückgekehrt sind.
Besteht nicht ein hohes Risiko für Leib und Leben Ihrer Leute auf solchen Rundfahrten?
Sehen Sie, auch in Syrien gibt es verschiedene Stufen des Risikos. Natürlich muss man immer damit rechnen, dass man sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält und bei einem der zahlreichen Luftangriffe in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber auf der anderen Seite kann man den wirklich gefährlichen Momenten natürlich auch gezielt aus dem Weg gehen. Es liegt jeweils im Ermessen des Delegationsleiters, ob der eine oder andere Ort zu meiden sei.
Weshalb besuchen Ihre Delegierten diese Gebiete?
Uns ist es wichtig, zu verstehen, was in der islamischen Welt passiert. Ich erinnere daran, dass wir nicht nur nach Syrien, sondern auch schon nach Burma, Ägypten oder Palästina oder China Missionen entsandt hatten, um uns einen Überblick über die Situation vor Ort zu verschaffen. Die dadurch gewonnen Informationen teilen wir mit unseren Partnerorganisationen wie etwa der European Muslims League (EML) oder der Association of Muslim Scholars (AMS), um zusammen herauszuarbeiten, auf welche Weise wir unsere Geschwister am besten unterstützen können.
https://www.youtube.com/watch?v=XD_XUK7J0UE
Reicht es denn nicht, wenn man die Zeitungen genau liest?
Gerade in Syrien stellen wir oft fest, dass die europäischen Medien immer ein paar Schritte hinterher hinken. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als wir unsere ersten Hilfsaktionen in der Provinz Raqqa und Deir e Zour 2013 durchführten, wussten wir bereits sehr gut Bescheid über die Denkweise des IS. Unsere Leute wurden mehrmals von IS-Leuten vorübergehend an der Arbeit gehindert. Als der IS dann sein wahres Gesicht zeigte, alle anderen Rebellengruppen zu Apostaten erklärte und die Gebiete nord-östlich des Euphrats an sich riss, mussten wir unsere Hilfsaktionen umgehend einstellen. Die europäischen Medien berichteten damals noch nicht über den IS. Erst als jener 2014 Mosul einnahm, geriet er auf den Radar der westlichen Presse. Vergleichbares ereignete sich diesen Oktober, als die Russen mit ihren angeblich präzisen Luftschlägen gegen den IS begannen. Unsere Leute, die gerade in Idlib zugegen waren, erlebten diese ersten Angriffe hautnah. Allesamt auf Ziele in einem Gebiet, wo es weit und breit keine IS-Präsenz gab und zudem oft auf zivile Einrichtungen. In Jisr Shughûr etwa konnte die zerbombte Omar ibn al-Khattab Moschee unmittelbar nach dem Angriff besucht werden. Da gab es weit und breit keinen IS und auch keine anderen Rebellen. Die Medien berichten erst in diesen Tagen über die mangelnde Präzision der russischen Luftschläge. Wir wissen das schon seit knapp einem Monat.
Am kommenden Samstag publiziert der IZRS ein exklusives Interview mit Dr. Abdallah al-Muhaysini. Wer ist dieser Mann?
Al-Muhaysini ist eine zentrale Brückenbauerfigur unter den Rebellen. Man sagt: Wenn es zwischen zwei Rebellengruppen brennt, dann ruft al-Muhaysini. Dieser saudische Gelehrte hat einen unglaublich wichtigen Einfluss auf die koordinierte Zusammenarbeit der Rebellen. Der IS möchte ihn unbedingt beseitigen, weil es ihm gelungen ist, ein fragiles aber dennoch funktionsfähiges Mantra der Einheit zu erzeugen. Ausserdem ist er eine wichtige Stimme der innerislamischen Mässigung. Er hat sich schon sehr früh stark gegen den theologischen Extremismus des IS aufgelehnt, nachdem er in mehreren Versuchen gescheitert war, sie zur Vernunft zu bringen. Er ist kein Mann, der einfach am Schreibtisch sitzt und die Drecksarbeit den anderen überlässt. Stets ist er bemüht, mit allen Parteien den Kontakt zu pflegen mit dem Ziel, den Kampf in Syrien gegen das Asad Regime und heute auch gegen den IS entschieden zu führen und sich nicht im Detail zu verlieren.
Die hiesigen Medien werden ihn einen «Jihadisten» nennen...
Das kann ich mir gut vorstellen. Wie dies schon der verstorbene Medienwissenschaftler Kurt Imhof wieder und wieder betonte: Vielen Journalisten fehlt heute das nötige religiöse Grundwissen im Allgemeinen und Wissen über den Islam im Besonderen. Eine solche Darstellung wäre typisch für die oberflächliche Herangehensweise an Themen rund um den Islam und wenig zielführend. In Syrien sind alle Oppositionellen in irgendeiner Weise «Jihadisten». Die USA unterscheiden ja nicht erst seit Syrien zwischen «guten und bösen Mujâhidîn». Wir müssen uns zwei Fragen stellen: Was ist die Zielrichtung al-Muhaysinis und zweitens stellt er eine direkte Gefahr für den Westen dar? Ersteres hat er mehrfach klar gemacht: Er kämpft zugunsten der vom Asad Regime unterdrückten Syrer. Sie sollen in Zukunft in Freiheit und Ehre leben können. Natürlich ist al-Muhaysinis Freiheitsbegriff kein westlicher, sondern ein islamischer. Er hat sich in der Vergangenheit gegen die Unterdrückung von Minderheiten ausgesprochen und plädiert stets für Milde im Umgang etwa mit Kriegsgefangenen. Vor allem aber ist er wohl die Autorität im Kampf gegen die IS-Ideologie. Und das macht ihn für uns Muslime und sekundär wohl auch für den Westen interessant.
Wie kam das Interview zustande?
Das ist total speziell. Wir hatten es gar nicht geplant. Als unsere Delegation vor Ort war, und sich über die Lage an der Front zum IS informierte, hat er wohl davon Wind bekommen und liess ausrichten, dass er sich bei Interesse gerne höchstpersönlich zum Thema äussern würde. Solch eine Gelegenheit bietet sich nicht alle Tage, dachte sich die Delegation und wollte gleich ein Treffen vereinbaren. Doch so einfach ging es dann doch nicht. Al-Muhaysini ist sehr auf seine Sicherheit bedacht. Nicht nur der IS hat schon mehrmals versucht, ihn mittels Selbstmordattentäter zur Strecke zu bringen, sondern auch Asad und die Russen dürften hinter ihm her sein. So musste die Delegation einige Tage zuwarten, bis es unvermittelt hiess, der Doktor sein nun bereit. Dann freilich hatte alles schnell zu gehen, schliesslich bestanden seine persönlichen Sicherheitsleute darauf, dass er sich nicht mehr als 1-2 Stunden am selben Ort aufhält.
Klingt spannend! Waren Ihre Leute nervös?
Davon gehe ich aus. Herr Cherni wird bei späterer Gelegenheit dazu noch ausführlich berichten. Jetzt steht erstmal das Interview im Vordergrund. Ich erhoffe mir davon eine innerislamische Reflexion über die Ideologie des IS, die Abgrenzung zwischen legitimem Jihâd gegen einen grausamen Tyrannen und blutigem Extremismus.
Das Interview von Naim Cherni mit Dr. Abd Allah al-Muhaysini wird am Samstag, 14.11.2015 um 20:00 Uhr MET auf den sozialen Medien des IZRS veröffentlicht.
Update: Aufgrund der Ereignisse in Paris hat der Pressedienst des Islamischen Zentralrates die Ausstrahlung bis auf weiteres verschoben. Weitere Infos hier.
Update II: Der neue Publikationstermin ist auf Freitag, 20.11.2015 um 20:00 Uhr festgelegt worden.


