Von Abdel Azziz Qaasim Illi
Ein toter amerikanischer Botschafter, schwere Ausschreitungen vor amerikanischen Einrichtungen in der gesamten islamischen Welt – neuerdings ein Übergreifen auf britische und deutsche Vertretungen und am Anfang steht ein primitiver Film Trailer eines vermutlich radikalen amerikanischen Kopten.
Experten, Journalisten und Politiker suchen fieberhaft nach Erklärungen. Der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle reflektierte gestern die Worte seiner US-amerikanischen Amtskollegin Hillary Clinton, die den Filmausschnitt als „abscheulich“ auffällig deutlich einer normativen Bewertung unterzog. Beide Amtsträger liessen keinen Zweifel offen, dass es dem Urheber einzig und alleine darum geht, Hass zu säen und Gräben zu vertiefen anstatt Brücken zu bauen. Einzig die scharfe Reaktion der islamischen Massen können sie nicht nachvollziehen. Woher stammt die scheinbar grenzenlose Wut und weshalb reichen ein paar amateurhafte Szenen aus, wesentlich filmreifere Strassenschlachten zu provozieren?
Die gängige Erklärung, wonach Muslime keine Beleidigungen religiöser Figuren, schon gar nicht der Propheten dulden, ist sicherlich Teil der Wahrheit, erklärt aber dennoch nicht das aktuelle Ausmass der Ereignisse. Sicher, der Prophet Muhammad (alles Heil und Segen ruhe auf ihm) nimmt in der Lebenswirklichkeit jedes Muslims – ob praktizierend oder nicht – die Funktion eines aktiven oder passiven Wertezentrums ein. Seine überlieferten Aussagen gelten dem orthodox Gläubigen als Norm, dem eher kulturell determinierten Muslim als moralisches Leitmotiv und gar der Liberal-Säkulare aus dem islamischen Kontext zollt dem Propheten Ehre und Anerkennung für die hohen moralischen Massstäbe, den Gerechtigkeitssinn und seine welthistorische Bedeutung. Jede Beleidigung Muhammads nimmt der Muslim daher unmittelbar persönlich und als direkter Angriff auf seine eigene Subjektivität wahr. Die Person des Propheten kann als moralisch-normative Metafigur nicht von der eignen getrennt einer Bewertung unterzogen werden. Als auserwählter Empfänger der letzten Offenbarung (des Qur’ans) ist er aus muslimischer Perspektive zweifelsfrei von jeglicher Unzulänglichkeit freizusprechen – auch dann, wenn gewisse seiner Handlungen durch die Optik der westlichen Moderne einer kritisch-negativen Bewertung unterzogen werden.
Jeder Versuch, die Empörung über die vorliegende Propheten-Beleidigung einem gewissen Spektrum innerhalb des Islams zuzuschreiben, geht fehl. Karim El-Gawhary suggerierte kürzlich auf dem der deutschen Bundesregierung nahe stehenden Onlineportal Qantara.de, dass die Proteste „meist von Salafisten“ dominiert würden. Die Bilder sprechen eine völlig andere Sprache. Sowohl alt, als jung, bärtig wie glatt rasiert sind die Menschen, die sich über die neuste Provokation aus dem Westen empören. Gestern Abend dementierte das Weisse Haus zudem noch die Gerüchte, wonach der Angriff auf das US-Konsulat in Benghazi von langer Hand geplant gewesen sein soll. El-Gawhary gehört zu jenen Kommentatoren, die wohl aus löblichen Motiven versuchen die aktuellen von Gewalt überschatteten Proteste zu marginalisieren, ja am Mainstream der muslimischen Massen vorbei zu diskutieren. Das ist wie beim Schachspiel. Man sieht sich in Bedrängnis, also opfert man einen Läufer, um die Dame zu erhalten. Die im deutschen Sprachraum ohnehin schon negativ stereotypisierten „Salafisten“ also sollen die aktuelle Situation verantworten und nicht der eigentlich gute muslimische Mainstream. Ähnliche Argumentationsmuster treffen wir auch in Ägypten immer wieder an, um exzessive Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Kopten zu erklären.
Würde Samuel Huntington noch leben, wäre er jetzt wohl ein gefragter Mann. Seine These vom Kampf der Kulturen, treffender „clash of civilizations“ scheint sich vor unseren Augen bildlich zu ereignen. Hasserfüllte Parolen, brennende Flaggen, zerstörte westliche Einrichtungen, Tote und Verletzte und kein Ende in Sicht – im Gegenteil, auf sinkende Spannungen zu spekulieren wäre angesichts der aktuellen Nachrichtenlage eher gewagt. Der US-Wahlkampf verhindert ein vernünftiges Entgegenkommen Obamas, der Demokratisierungsprozess in einigen Teilen der arabischen Welt ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte gegen die neuerdings souveränen Staatsbürger. Anstatt hart gegen den Hass-Regisseur vorzugehen und beispielsweise seinen Film einstweilig blockieren zu lassen, denkt man in Washington nur an Vergeltung, erhebt die eigene Werteordnung über die andere und lässt einmal mehr die Säbel rasseln.
Dabei ist die Erklärung für die eingangs gestellte Frage nach dem Warum so viel Wut, in der Nähe jener westlich-modernen Arroganz zu suchen. Könnte es nicht sein, dass der Film Trailer nur Auslöser, nicht aber Ursache für die gewaltsamen Proteste ist? Stehen die Proteste gegen den Trailer nicht eher stellvertretend für einen pan-islamischen Protest gegen jene westlich-moderne Arroganz?
Mit westlich-moderner Arroganz meine ich den seit dem 11. September deutlich hervorgetretene Versuch, den Muslimen eine westlich-moderne Werteordnung, nötigenfalls auch unter Gewaltanwendung, aufzuzwingen. Muslime im Westen nehmen dieses Phänomen seit 2004 verstärkt diskursiv wahr. Islamophobe Stereotypen diffundieren schrittweise aus ihren Nischen in Richtung Gesamtgesellschaft und bedrohen das harmonische Zusammenleben. Minarett-, Niqab- und Hijabverbote sowie Versuche die Beschneidung der Knaben einzuschränken sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Muslime in Mitteleuropa fühlen sich quer durch alle sozialen Schichten an die Ränder ihrer Gesellschaften gedrängt. Warnende Berichte von Seiten der OIC, OECD, diverser Menschenrechtsorganisationen und islamischer Verbände werden systematisch überlesen oder beschönigt.
In der islamischen Welt werden diese europäischen „Luxusprobleme“ erst allmählich zur Kenntnis genommen. Dort nämlich dominiert seit dem 11. September in offenkundiger Weise andere, meist gewalttätigere Formen westlich-moderner Arroganz: Völkerrechtlich illegale Invasionskriege wie 2003 im Irak, fehlgeschlagene Zwangsdemokratisierungsversuche in Afghanistan, inständige Sanktionen und Kriegsdrohungen gegen den Iran, weil er seinen legitimen Anspruch auf friedliche Nutzung von Nuklearenergie verteidigt, Parteinahme für den zionistischen Kolonialismus in Palästina, willkürliche, illegale Drohnenangriffe im Yemen, in Somalia und in Pakistan, wobei meist unbeteiligte Frauen und Kinder getötet werden (…) Rechtlosigkeit muslimischer Gefangener in Guantanamo, Bangram, Abu Ghaib, Folter und Erniedrigung, illegale Entführungen durch die CIA und nun wieder: Entsendung von Marinesoldaten nach Libyen und Yemen.
Vermutlich ist es Zufall, dass die Proteste ausgerechnet am 11. September ausgebrochen sind – auf jeden Fall ein symbolreicher Zufall. Die vergangenen elf Jahre „Krieg gegen den Terror“ haben der islamischen Welt, den im Westen lebenden Muslimen eingeschlossen, nichts Gutes gebracht. Die Umma beklagt weit über eine Million Tote, Zerstörung, wirtschaftliche Einbussen, Erniedrigung und Ohnmacht. Es hat einige Zeit gedauert und bedurfte einem Amtswechsel in Washington und London, um das Gefühl eines kollektiven Misstrauens gegenüber der westlichen Moderne als System heranzuzüchten. Während 2003 noch viele glaubten, dass sich die amerikanische Aussenpolitik alleine an der Person George W. Bush aufhängen lasse und mit einem Amtswechsel sich die Beziehungen zur islamischen Welt wieder aufwärmen würden, stellt sich heute kalte Ernüchterung ein. Nicht die Administration, sondern das System, welchem sich jeder US-Präsident verpflichtet fühlt, ist versucht der eigenen Werteordnung universelle Gültigkeit zu verschaffen.
Das Fass scheint nun voll zu sein. Die Umma hat in der vergangenen Dekade viel einstecken müssen. Die Propheten-Beleidigung eines Radikalen auf der einen Seite und die Untätigkeit, ja der in gewisser Weise an Affirmation grenzende Zick-Zack-Kurs westlicher Entscheidungsträger auf der anderen Seite, will die Umma nicht auch noch hinnehmen. Wir erleben heute, so meine These, den Beginn einer kollektiven Protestaktion gegen den rücksichtslosen Versuch der westlichen Moderne, ihre Werteordnung gewaltsam zu universalisieren.