24.04.2025
In der Schweiz herrscht akuter Lehrermangel. Gleichzeitig verbietet man qualifizierten Musliminnen weiterhin das Arbeiten mit Hijab – ein unhaltbarer Zustand, der zunehmend hinterfragt werden muss.
Von Abdel Azziz Qaasim Illi
Karin* arbeitete seit 2023 an einer Berner Schule als Primarlehrerin mit Hijab. Niemand störte sich daran – bis zu dem Tag, an dem eine Schulaufsichtsperson die Lehrerin auf einem Gruppenfoto sah und sich wunderte, weshalb sie ein Kopftuch trage. Anfang 2025 wurde ihr daraufhin mitgeteilt, dass sie es unter Androhung der Kündigung nicht mehr tragen dürfe. Die Schule zeigte sich nicht gesprächsbereit – auch auf alternative Formen des Hijabs wollte man nicht eingehen. In der Mitte April ausgesprochenen Kündigung heisst es, das Kopftuch widerspreche dem Grundsatz der Konfessionsneutralität an öffentlichen Volksschulen.
Karin ist kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren haben zahlreiche gut ausgebildete Musliminnen in verschiedenen Kantonen ähnliche Erfahrungen gemacht. In den meisten Fällen kommt es gar nicht erst zur Anstellung, wenn eine Frau ein Kopftuch trägt.
Diese Rigidität geht zurück auf einen Fall in Genf, über den das Bundesgericht 1997 ein bis heute kaum hinterfragtes Urteil (BGE 123 I 296) fällte. Eine konvertierte Lehrerin wollte fortan mit Hijab unterrichten, was die Schule mit Verweis auf die Laizität und konfessionelle Neutralität ablehnte. Die Betroffene zog den Fall bis vors Bundesgericht, welches zwar erkannte, dass ihr Hijab als sichtbare Glaubensbezeugung unter Art. 15 BV und Art. 9 EMRK falle und damit grundsätzlich geschützt sei, und dass das Verhalten der Schule einen erheblichen Eingriff in dieses Freiheitsrecht darstelle. Als legitime Gründe für eine Einschränkung wurden unter anderem die Laizität der Schule, der Schutz der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern und der religiöse Frieden genannt. Die Schule sei verpflichtet, weltanschauliche Neutralität zu wahren, und Lehrpersonen dürften keine starken religiösen Symbole tragen, da diese Neutralität sonst gefährdet sei. Das Gericht beurteilte das Kopftuch als besonders auffälliges Zeichen, das zu religiösen Spannungen führen könne. Deshalb müsse in diesem Fall die persönliche Religionsfreiheit der Lehrerin hinter dem Prinzip der staatlichen Neutralität zurückstehen.
Die Lehrerin, die sogar bereit war, anstelle des Kopftuchs einen Hut zu tragen, akzeptierte das Urteil nicht und zog es an den EGMR weiter. Doch auch dieser schützte ihre Beschwerde in seinem Urteil (Lucia Dahlab c/Suisse, req. No. 42393/98) 2001 nicht. Seither gilt es in der Schweiz quasi als unbestritten, dass ein Kopftuch bei Volksschullehrerinnen nicht zulässig sei. Anders als bei Schülerinnen, bei denen das Bundesgericht in einem vom IZR angestrebten Leiturteil (BGE 142 I 49) im Jahr 2015 das Verbot einer Schule in St. Margrethen aufhob, gab es in dieser Frage über die letzten beiden Jahrzehnte keine Bewegung mehr.
Bewegt hat sich aber doch etwas: Der Lehrermangel hat sich stark verschärft. Laut Schätzungen von Experten sollen bis 2030 zwischen 9000 und 13’000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. In der Not werden zunehmend Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger eingestellt, die über kein adäquates Lehrdiplom verfügen. Vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, weshalb man gut ausgebildeten Lehrerinnen die Arbeit aufgrund eines Kopftuchs verweigert.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Deutschland. Dort entschied das Bundesverfassungsgericht bereits 2003, dass ein Kopftuch kein grundsätzliches Hindernis für den Lehrerberuf darstellt und ein allgemeines Verbot grundgesetzwidrig sei. Im Land Berlin tobte ein jahrelanger Streit um das 2005 beschlossene Neutralitätsgesetz, der sich jedoch zunehmend entschärfte. Seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2020 dürfen Musliminnen mit Kopftuch wieder an Volksschulen unterrichten. Ähnliche Entwicklungen gab es in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Es gilt: Sofern der Schulfrieden nicht gestört wird, stellt ein Kopftuch für sich genommen keinen Hinderungsgrund für eine Anstellung mehr dar.
Tatsächlich scheint die Argumentation des Schweizer Bundesgerichts von 1997 nicht mehr zeitgemäss. Nicht die Lehrperson muss neutral sein, sondern die Schule als staatliche Institution. Ein Lehrer oder eine Lehrerin darf und soll die eigene Persönlichkeit ausdrücken dürfen – soweit dies den Schulfrieden nicht gefährdet. Eine muslimische Lehrerin kann sich trotz Hijab im Unterricht vollkommen neutral verhalten – analog zu einer Christin oder einem Lehrer, der einer bestimmten Partei angehört oder einer Weltanschauung folgt, die ihn persönlich prägt.
Das starre Kopftuchverbot hindert nicht nur heutige Lehrerinnen daran, ihren Beruf auszuüben, sondern schreckt auch einen wesentlichen Teil der heranwachsenden Generation davon ab, diesen Beruf überhaupt zu ergreifen – aus der begründeten Sorge heraus, ihn später nicht ausüben zu können. Schlechte Aussichten also, um den Lehrermangel künftig in den Griff zu bekommen.
*Name der Redaktion bekannt.
Lehrermangel in der Schweiz: Kopftuchverbot für Lehrerinnen ohne Zukunft!
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