Bern/ Damaskus 22.09.2010
Enisa Catic aus Bad Ragaz darf ihr Kopftuch (Hijab) weiterhin im Schulzimmer tragen. So hat es die Regionale Schulaufsicht Sargans im Kanton St.Gallen beschlossen. Ein grosses Lob für die Schulaufsicht! Wer die schweizerische Rechtsordnung liebt und den Entscheid und die Begründung der Schulaufsicht liest, kann eigentlich nur applaudieren. Dennoch gibt es keinen Grund für eine grosse Feier. Es ist nur eine kleine Bergetappe gewonnen, aber noch lange nicht die ganze Tour. Zu viele Leute sind weiterhin damit beschäftigt, die Verfassung auszuhöhlen um Muslime bewusst auszugrenzen.
Von Oscar A.M. Bergamin, Damaskus
«Die Ungleichbehandlung wegen eines religiösen Bekenntnisses lässt sich durch keinerlei qualifizierte und objektive Gründe rechtfertigen», heisst es im Entscheid der Regionalen Schulaufsicht Sargans (RSA) zum Rekurs von Enisa Catic aus Bad Ragaz. Glaubensinhalte, die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte Bekleidungsweisen nahelegen, seien grundsätzlich nicht zu überprüfen und zu bewerten. Die eidgenössische Bundesverfassung gebietet im Grundsatz die Anerkennung von Bekenntnissen und Überzeugungen, die von den in der Schweiz herkömmlichen Vorstellungen abweichen. Die Regel, dass Schüler keine Kopfbedeckung tragen sollen, schafft nicht, wie vorgegeben Rechtsgleichheit, sondern Rechtsungleichheit, weil sie nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass das Verbot nicht alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise trifft. Es schränkt einseitig die Religionsfreiheit der Schülerinnen ein, die wegen ihres Glaubens das Kopftuchtragen als ihre religiöse Pflicht betrachten. Das ist keine «von Islamisten erzwungene Fehlentwicklung», wie es ein Nationalrat kürzlich nannte, sondern Schweizer Recht. Da können alle Thilo Sarrazins, Alice Schwarzers (oder wie sie alle heissen) und ihre radikal-evangelischen schweizerischen Nachahmer wie Julia Onken oder kleine, unbedeutende nationalistische Schweizer Zeitungsmacher, die immer wieder durch die Hintertür ins Parlament schlüpfen, toben wie sie wollen. Das ist Schweizer Recht! Rechtsgelehrte halten sogar einen Bann des Hijabs für Personen aus dem öffentlichen Dienst für illegal. Niemand, der einen Hijab trägt, bedroht dadurch andere oder schränkt damit Rechte und Freiheiten anderer ein. Es macht daher in einer demokratischen Gesellschaft keinen Sinn, das Tragen von Kopftüchern zu verbieten – weder im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zum Schutze der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder zum Schutze der Freiheitsrechte anderer.
«Blabla» der Populisten und radikalen Scharfmacher
Ich wiederhole: Glaubensinhalte, die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte Bekleidungsweisen nahelegen, seien grundsätzlich nicht zu überprüfen und zu bewerten! Das gilt nicht nur für Schulvorsteherinnen, die Mädchen zum Beten zwingen wenn sie den Hijab tragen wollen, sondern auch für Bildungsdirektoren die unter Profilzwang stehen. Ein relativ bekannter Newsletter-Verfasser – mit Betonung auf «relativ» – schrieb kürzlich:«Die Kopftuch-Tragpflicht für Frauen hat mit Religion nichts zu tun. Sie dokumentiert höchstens eine allenfalls gesellschaftlich, sicher aber machtpolitisch begründete Unterdrückungsallüre». Erstens ist dies nichts mehr als «Blabla» der radikalen Scharfmacher, die immer wieder in allem Islamischen – sogar in Friedhöfen – etwas Machtpolitisches sehen wollen. Zweitens ist es eine schreckliche Anmassung, über die Glaubensinhalte anderer Religionen, Bekenntnissen und Überzeugungen, «die von den in der Schweiz herkömmlichen Vorstellungen abweichen» zu urteilen, um aus purem Hass, Panik und Angst zu verbreiten. Der oben erwähnte Nationalrat soll sich also besser um die von ihm verpönten (Zitat) «in vielen Schulklassen feststellbare ‚Söimödeli‘ völlig unmotivierten Käppli-Tragens während des Unterrichts» kümmern oder auch dies einfach sein lassen (Nur so nebenbei: Einer meiner Söhne trägt so eine Kappe, und es käme mir nicht in den Sinn, ihm diese zu verbieten. Da kann von mir aus ein Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats an den «zivilisatorischen Anstand» meines Sohnes appellieren, wenn dieser nichts Besseres zu tun hat).
Antireligiosität oder Islamfeindlichkeit ist nicht neutral
Die Bundesverfassungen der Eidgenossenschaft von 1848 und 1874 beginnen mit «Im Namen Gottes des Allmächtigen!». Und auch die neue Bundesverfassung von 1999, die seit 2000 in Kraft ist, beginnt mit dieser Formel. Die vom Volk gewählte Verfassung anerkennt also, dass es noch etwas Höheres gibt als nur den Willen des Volkes. Dennoch hat sich die Schweiz – ebenfalls in der Bundesverfassung festgehalten – zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Diese Verpflichtung verbietet dem Staat jede Parteinahme zugunsten oder zu Ungunsten einer bestimmten Religion oder Weltanschauung. Gleichzeitig ist es eine verfassungsmässige Aufgabe des Staates, die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Religionsfreiheit) im Land zu schützen. Wenn also gewisse Gruppierungen versuchen, die Gesetze zu Ungunsten der Muslimen zu ändern, so ist dies schlicht verfassungsfeindlich, ja um es mal populistisch auszudrücken: Verrat am eigenen Volk. Für viele Menschen in der Schweiz ist religiöse Neutralität das wichtigste Instrument, um Religion generell aus dem öffentlichen Bereich zu verbannen. Dass der säkulare Rechtsstaat religionsneutral sein muss, bedeutet aber nicht, dass religiöse oder weltanschauliche Elemente aus der Staatstätigkeit vollständig ausgeschlossen werden. Das Neutralitätsgebot verlangt vielmehr eine unparteiische und gleichmässige Berücksichtigung der in einer pluralistischen Gesellschaft auftretenden religiösen Überzeugungen. Es ist ein Irrtum, eine antireligiöse oder areligiöse Haltung als neutral zu bezeichnen, da sind sich Staats- und Kirchenrechtler einig. Die bewusste Ausgrenzung von Muslimen, die trotz des kleinen Erfolgs im «Fall Catic», immer mehr überhandnimmt, ist ein Eingriff in das verfassungsmässige Recht eines jeden Einwohners dieses Landes.
Konstruktion einer diffusen Angst vor dem Islam
Ooh, ooh, ooh, habe ich da was vergessen? Ja, genau die Integration! Die Integration von muslimischen Einwandern. Nun, das ist genau das grosse Missverständnis. Die Politiker sollen endlich Migration und Islam voneinander trennen. Fremdenfeindlichkeit und Islam werden immer mehr vermischt, aber darüber schrieb ich schon ausführlich im letzten IZRS-Newsletter (hyperlink einfügen). Aufgefallen ist, dass es immer mehr Schweizer Muslime gibt. Darum wird aus Fremdenfeindlichkeit Islamfeindlichkeit. Es wird der Anschein erweckt, die Muslime stünden kurz davor, die Eidgenossenschaft zu «unterwerfen». Da dies bei einem muslimischen Bevölkerungsanteil von vier Prozent völlig lächerlich ist, wird vor einer «schleichenden Islamisierung» gesprochen. In einem Essay in der in Deutschland erscheinenden «Islamischen Zeitung» vom vergangenen 20. Juli (ein schönes historisches deutsches Datum übrigens) beschreibt Andreas Yasin Herrmann auf eine ausgezeichnete Art, wie die Konstruktion einer diffusen Angst vor dem Islam vor sich geht. Er erklärt, was für ein Bild man mit «Schleichender» oder «Stiller Islamisierung» eigentlich zu transportieren versucht. Die Wahl der Worte ist keineswegs willkürlich. Denn wenn etwas «still» ist oder «schleicht», dann kann man es nicht genau orten. Es ist unkonkret, nicht fassbar. Mit anderen Worten: Der böse Muslim lässt sich nicht gleich erkennen. Die Folge: Alle stehen plötzlich unter Generalverdacht. Hinter der «schleichenden Islamisierung» öffnet sich ein grosses, unüberschaubares Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten. Im Prinzip kann sich jeder zum Thema äussern, keiner wird etwas falsch machen. Das einzige, was beim Durchschnittsbürger hängen bleibt: «Gefahr! Die Muslime überrollen uns!» Davon zeugen nicht nur die Forenbeiträge zu Sendungen, die sich direkt oder indirekt mit Muslimen und dem Islam auseinandersetzen. Nein, auch der renommierte Antisemitismus-Forscher, Wolfgang Benz, äussert sich bedenklich zu diesem Phänomen: «Wenn man die katholische Kirche historisch nur über das Leid definieren wollte, das päpstliche Kreuzzüge gegen ‚Ungläubige‘ im Mittelalter, Inquisition und Hexenprozesse bis in die Neuzeit über unglückliche Unschuldige gebracht haben (oder heutzutage nur über Priester, die sich an Minderjährigen vergreifen), dann zöge man sich den Vorwurf der Verleumdung zu – die Verallgemeinerung beklagenswerter Auswüchse ist Hetze mit dem Ziel der Diskriminierung. Um die Gefährlichkeit des Islam zu beschwören, agieren ‚Islamkritiker‘ aber unter zunehmendem Applaus mit genau dieser Methode. Heinrich von Treitschke (1834 – 1896), deutscher Historiker und populärer Publizist, sah einst in seiner Überfremdungsangst Deutschland von Feinden umringt und durch mangelnde Bereitschaft der jüdischen Minderheit zur Assimilation im Inneren bedroht. Durch Autorität und Beredsamkeit verlieh er dem Antisemitismus Reputation und Schubkraft. Das war 1879, als er den Berliner Antisemitismusstreit auslöste. «Aus der unerschöpflichen polnischen Wiege», behauptete der Gelehrte, dränge «eine Schar strebsamer, Hosen verkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen» würden. Die Parallele ist unübersehbar, wenn als taktische Waffe im geargwöhnten Kampf um die «Islamisierung Europas» heute sogar ins Feld geführt wird, dass Muslime mehr Kinder haben als Nicht-Muslimen und daraus eine Gefahr abgeleitet wird. Darum verlangt man eine Aushöhlung der Verfassung, um alles Muslimische zu verbannen. Da dies nicht ohnehin und auf Anhieb geht, versucht man es auf Gemeinde-Ebene mit der Diskriminierung von Schulmädchen und junge Frauen. Gewisse Populisten schreien sogar nach einen Bann des Hijabs im öffentlichen Raum, womit auch die Strasse gemeint ist. Muslimische Frauen sollen also von der Strasse verschwinden? So krass es tönen mag, wer durch Kopftuchverbote mit der Ausgrenzung beginnt, ist von Berufsverboten nicht mehr weit entfernt. Dann braucht es nicht mehr viel um wieder zurück zu sein in einer Zeit, an die sich meine Eltern noch sehr wohl erinnern können, weil es gar nicht so lange her ist. Mein Vater ist als Schweizer in Amsterdam aufgewachsen, nicht so weit weg vom Haus, wo Anne Frank wohnte. Diese Anne war ein europäisches Mädchen, so wie Enisa Catic aus Bad Ragaz eins ist.