12.03.2025
Das Kalifat – ein umstrittenes Konzept. Im Westen oft mit Fundamentalismus assoziiert, unter Muslimen Gegenstand lebhafter Debatten: Ist es eine historische Episode oder eine religiöse Pflicht? Dieser Essay geht der Frage auf den Grund und liefert fundierte Antworten.
Von Nicolas Blancho
Im Rahmen verschiedener Protestaktionen gegen das israelische Besatzungsvorgehen in Gaza, versammelten sich auch der Hizb ut-Tahrir unter dem Banner von Muslim Interaktiv zu mehreren Kundgebungen in Hamburg. Die Kundgebung vom 27. April 2024 löste allerdings eine Kontroverse aus. “Kalifat ist die Lösung” wurde auf Bannern hochgehalten und in Ansprachen wurde vom Kalifat als Lösung in der muslimischen Welt und einer Wertediktatur Deutschlands gesprochen. Verschieden muslimsche Akteure äusserten sich überaus kritisch zu der Aktion von Muslim Interaktiv. Gerade im Kontext der anstehenden Wahlen in Deutschland, einer instabilen Wirtschaftslage und der Migrationsdebatte, würde dies der AFD in die Hände spielen. Auch Protagonisten des Islamischen Zentralrates äusserten sich mit unmissverständlicher Kritik. Qaasim Illi warf der Hizb ut-Tahrir insebosendere der Muslim Interaktiv vor, den Diskurs der islamophoben Lager und insbesodnere der AFD als Partei mit solchen Aktionen zu bekräftigen. Ferah Ulucay hielt in der Sendung “Talk im Hangar-7” von Servus TV fest, dass ein Kalifat keine religiöse Vorschrift sei und es nicht angehe, dass ein legitimer Diskurs wie jener der Palästinenser für eine ideologische Sache missbraucht wird. In einer Online-Diskussionsrunde zum Thema am 11.09.2024 hielt Ferah Ulucay erneut fest, dass das Kalifat keine religiöse Pflicht darstelle und keine vorgeschriebene Form der Herrschaft aus den autoritativen Quellen vorzufinden sei. Dies löste in entsprechenden Kreise erneute Entrüstung aus. Vorgefertigte Argumente scheinen wie Salven via Social Media abgefeuert zu werden. Die Frage drängt sich auf, wie viel ist an diesen Argumenten dran?
Um eine religiöse Pflicht für jeden einzelnen Muslim zu etablieren, bedarf es gemäß islamischer Rechtstheorie einer eindeutigen Beweislage in den autoritativen Quellen. Für die Etablierung einer verbindlichen, zeitlosen und universellen religiösen Pflicht, die für jedes muslimische Individuum gilt, müsste der Text entsprechend eindeutige Aufforderungen verlautbaren, die nicht nur partielle Anspielungen auf einen Aspekt ausmachen, sondern den Sachverhalt eindeutig und unmissverständlich aufgreifen.
Dies ist beispielsweise in der Frage des Pflichtgebets eindeutig gegeben. An unzähligen Stellen ist die Aufforderung zur Einhaltung und Verrichtung des Gebets vorzufinden.
وَأَقِيمُوا الصَّلَوٰةَ
“Und verrichtet das Gebet” (HQ 2:43; 2:110) kommt so und anderen Formen der Aufforderung 17 Mal im Qur’an vor. Auch wenn die Form des Gebets, die Häufigkeit und die Details der Gebetseinheiten zumindest im Qur’an nicht erwähnt werden, ist die Aufforderung dazu unmissverständlich. Hier anknüpfend, kommt oft der Einwand, dass genau deswegen die Eindeutigkeit der Pflicht zur Errichtung eines Kalifats nicht nur im Qur’an gesucht werden müsse, sondern in der Prophetentradition und im Konsens der Gelehrten, worauf später in einem weiteren Abschnitt eingegangen wird.
In gewisser Weise ist dieser Einwand problematisch, denn der Qur’an selbst erhebt den Anspruch, dass alle wichtigsten, fundamentalen Elemente dieser abschließenden Botschaft vollumfänglich übermittelt wurden.
ۚ وَنَزَّلْنَا عَلَيْكَ ٱلْكِتَـٰبَ تِبْيَـٰنًۭا لِّكُلِّ شَىْءٍۢ
“Wir haben dir das Buch (Qur’an) offenbart als klare Darlegung von allem(…)” (HQ 16:89) und “haben in diesem Buch nichts (grundlegendes) ausgelassen” (HQ 6: 38) und darüber hinaus wurde in dieser Offenbarung der Islam als Lebensweise abgeschlossen: “heute habe ich euch eure Lebensweise vervollkommnet und meine Gnade an euch vollendet und den Islam als eure Lebensweise angenommen.” (HQ 5:3)
Alle eindeutigen religiösen Pflichten, grundlegenden Gebote und Verbote, die anfänglich von den Gefährten über Gelehrten aller Strömungen in weitem Konsens abgeleitet wurden, sind unter anderem in einem eindeutigen Wortlaut im Qur’an vorzufinden. Das Kalifat allerdings ist nirgends in einer Aufforderung nicht erwähnt. Alle Verse die den arabischen Wortstamm (kh-l-f) verwenden, sind deskriptiver Natur und deren Kernaussage spricht nicht von der Errichtung einer kalifalen Staatsform.
Die Begriffe “Khalifa” (خَلِيفَة) und “Khulafa’” (خُلَفَاء) kommen im Qur’an an verschiedenen Stellen vor, und hier sind die relevanten Verse:
1. Surah Al-Baqarah (2:30):
وَإِذْ قَالَ رَبُّكَ لِلْمَلَائِكَةِ إِنِّي جَاعِلٌ فِي الْأَرْضِ خَلِيفَةً
„Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ‚Ich werde auf Erden einen Statthalter (Khalifa) einsetzen.‘“
2. Surah Sad (38:26):
يَا دَاوُودُ إِنَّا جَعَلْنَاكَ خَلِيفَةً فِي الْأَرْضِ
„O Dawud, wir haben dich zu einem Statthalter (Khalifa) auf der Erde gemacht.“
3. Surah Al-An’am (6:165):
وَهُوَ الَّذِي جَعَلَكُمْ خَلَائِفَ الْأَرْضِ
„Und Er ist es, der euch zu Verwaltern (Khala’ifa) auf der Erde gemacht hat.“
4. Surah Al-A’raf (7:69):
وَاذْكُرُوا إِذْ جَعَلَكُمْ خُلَفَاءَ مِن بَعْدِ قَوْمِ نُوحٍ
„Und denkt daran, wie Er euch zu Verwaltern (Khulafa) nach dem Volk von Noah gemacht hat.“
5. Surah Al-A’raf (7:74):
وَاذْكُرُوا إِذْ جَعَلَكُمْ خُلَفَاءَ مِن بَعْدِ عَادٍ
„Und denkt daran, wie Er euch zu Verwaltern (Khala’ifa) nach ‘Ad gemacht hat.“
6. Surah Yunus (10:14):
ثُمَّ جَعَلْنَاكُمْ خَلَائِفَ فِي الْأَرْضِ
„Dann haben wir euch zu Verwaltern (Khala’ifa) auf der Erde gemacht.“
7. Surah Yunus (10:73):
وَجَعَلْنَاهُمْ خَلَائِفَ
„Und wir haben sie zu Verwaltern (Khala’ifa) gemacht.“
8. Surah An-Naml (27:62):
وَيَجْعَلُكُمْ خُلَفَاءَ الْأَرْضِ
„Und er macht euch zu Verwaltern (Khulafa’ ) auf der Erde.“
9. Surah Fatir (35:39):
هُوَ الَّذِي جَعَلَكُمْ خَلَائِفَ فِي الْأَرْضِ
„Er ist es, der euch zu Verwaltern (Khala’ifa) auf der Erde gemacht hat.“
Diese Verse zeigen, dass der Begriff des “Khalifa” im Quran mehrfach vorkommt, aber stets im generellen Sinne der menschlichen Funktion als „Statthalter“ oder „Verwalter“ auf der Erde. Es wird keine explizite Staatsform vorgeschrieben, und es gibt keinen eindeutigen Hinweis, dass das Kalifat als politisches System eine religiöse Pflicht wäre oder errichtet werden müsste. Die Verlautbarungen sind deskriptiver Natur.
Wenn das Kalifat eine religiöse Pflicht wäre, ist es unschlüssig, dass der Begriff so oft vorkommt, aber nie im Kontext einer vorgegebenen politischen Herrschaftsform oder der Aufforderung, diese zu etablieren.
Im Quran finden sich mehrere Verse, die häufig im Kontext sozialer Ordnung und kollektiver Verantwortung zitiert werden. Sie werden auch gerne als Argumente für die religiöse Pflicht zur Errichtung eines Kalifats vorangebracht. Diese Verse legen jedoch keine konkrete Staatsform fest und lassen sich nicht als direkte Anweisung zur Errichtung eines Kalifats oder einer anderen politischen Struktur interpretieren. Vielmehr betonen sie die Bedeutung von Einheit, Gerechtigkeit und der organisierten Verwaltung einer Gemeinschaft, ohne dabei explizit eine politische Form vorzuschreiben.
Quran 4:59 (Surah An-Nisa):
يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا أَطِيعُوا اللَّهَ وَأَطِيعُوا الرَّسُولَ وَأُولِي الْأَمْرِ مِنكُم
“O ihr, die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und den Befehlshabern unter euch (Ulul Amr).”
Dieser Vers wird häufig als Grundlage für Gehorsam gegenüber einer Autorität innerhalb der Gemeinschaft herangezogen. Der Vers wird bemerkenswerterweise von keinem klassischen Gelehrten als Hinweis für die Etablierung eines Kalifats angeführt. Darüber hinaus spielen die Exegeten nirgends darauf an. Dabei bleibt jedoch offen, wer genau als “Ulul Amr” fungiert – es kann sich um mit dem Propheten (sas) verbündete Prinzen, die kompetentesten, einflussreichsten, religiöse Führer, Gelehrte oder politische Verantwortliche handeln. Der Vers legt somit keine spezifische politische Struktur wie ein Kalifat fest, sondern fordert allgemein den Gehorsam gegenüber einer legitimen Autorität. Also eine Affirmation des etablierten Systems. Ebenfalls macht dieser Vers durch die Erwähnung mehrerer Befehlshaber nebeneinander deutlich, dass eine Ordnung keineswegs auf eine einzelne Führerschaft ausgelegt sein muss, sondern durchaus eine Institution sein kann.
Mehrere Verse des Qur’ans beziehen sich auf das soziale und politische Handeln von Gemeinschaften, ohne jedoch eine explizite politische Struktur wie das Kalifat vorzuschreiben. Die bereits besprochenen Verse, die zur Einhaltung der Einheit und zum Gehorsam gegenüber den „ulul-amr“ (denjenigen in Autorität) aufrufen, sind allgemeiner Natur und bieten keine konkrete Anleitung für eine bestimmte Staatsform.
Ein weiterer relevanter Vers, der oft im Zusammenhang mit der Diskussion über islamische Herrschaft zitiert wird, lautet:
الَّذِينَ إِن مَّكَّنَّاهُمْ فِي الْأَرْضِ أَقَامُوا الصَّلَاةَ وَآتَوُا الزَّكَاةَ وَأَمَرُوا بِالْمَعْرُوفِ وَنَهَوْا عَنِ الْمُنكَرِ ۗ وَلِلَّهِ عَاقِبَةُ الْأُمُورِ
“[Und sie sind] diejenigen, die, wenn Wir ihnen eine feste Stellung auf Erden geben, das Gebet verrichten und die Zakat entrichten und das Rechte gebieten und das Unrechte verbieten. Und bei Allah liegt das Ende aller Dinge.” (Qur’an 22:41)
Dieser Vers beschreibt die Pflichten von Menschen, die eine feste Stellung innehaben, indem sie das Gebet verrichten, Zakat geben, das Gute gebieten und das Schlechte verbieten. Bemerkenswert ist, dass der Vers „Stellung auf Erden“ (فِي الْأَرْضِ) erwähnt. Hier geht es um territoriale Herrschaft. Das kann eine Partikularhgerrschaft eines Stadtrates, eines Provinzgouverneurs oder einer Zentralregierung sein. `Arḍ ist meist als Boden und nicht als Globus – Erde zu lesen in klassischen Texten. Der Ausdruck kann auch auf eine lokale oder regionale Autorität bezogen sein, was bedeutet, dass Muslime an jedem Ort, an dem sie Macht oder Einfluss haben, ermahnt sind, diesen Geboten bestmöglich zu folgen. Das Gebieten von Recht und Unterbindung von Unrecht ist nichts weiteres als die Aufforderung dazu, eine Gesellschaftsordnung zu definieren, die das Recht aller gewährleistet und sie vor Unrecht schützen kann.
Obwohl sich der Vers mit der Frage der Autorität und Ordnung befasst, bietet er keine klare Definition oder Anweisung für eine bestimmte Staatsform. Stattdessen wird der Schwerpunkt auf grundlegende religiöse und moralische Pflichten gelegt, wie das Gebet, die Zakat und das Gebieten des Guten. Diese Pflichten gelten für Muslime in jeder Art von politischer Ordnung und sind nicht auf ein bestimmtes Regierungsmodell beschränkt.
Was aus diesem und ähnlichen Versen des Qur’ans abzuleiten möglich ist, ist die Bedeutung der organisierten Verwaltung der Gemeinschaft, um Anarchie, Chaos, Kriminalität und Selbstjustiz zu vermeiden. Die Einheit der Gemeinschaft wird als Stärke angesehen, wie gleich folgt, doch es bleibt dem menschlichen Urteilsvermögen und seiner Anstrengung überlassen, wie diese Einheit praktisch umgesetzt wird. Eine festgelegte, unveränderliche Regierungsform wie das Kalifat lässt sich aus diesen Versen jedoch nicht ableiten.
Quran 3:103 (Surah Al-Imran):
وَاعْتَصِمُوا بِحَبْلِ اللَّهِ جَمِيعًا وَلَا تَفَرَّقُوا
“Und haltet alle zusammen am Seil Allahs fest und spaltet euch nicht.”
Dieser Vers betont erneut die Wichtigkeit der Einheit und Kohäsion innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Das “Seil Allahs” wird in der islamischen Exegese oft als der Qur’an oder den Dîn verstanden, an dem die Gläubigen festhalten sollen. Während der Vers zur Einheit aufruft, gibt er keine spezifischen Anweisungen zur politischen Organisation der Gemeinschaft. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf der Vermeidung von Spaltungen und der Erhaltung des kollektiven Zusammenhalts.
Quran 24:55 (Surah An-Nur):
وَعَدَ اللَّهُ الَّذِينَ آمَنُوا مِنكُمْ وَعَمِلُوا الصَّالِحَاتِ لَيَسْتَخْلِفَنَّهُمْ فِي الْأَرْضِ كَمَا اسْتَخْلَفَ الَّذِينَ مِن قَبْلِهِمْ
“Allah hat denen von euch, die glauben und rechtschaffen handeln, verheißen, dass Er sie gewiss auf Erden als Nachfolger einsetzen wird, wie Er jene vor ihnen eingesetzt hat.”
Dieser Vers wird häufig als Bestätigung der Verantwortung der Muslime auf der Erde interpretiert, jedoch wird die Art der Herrschaft oder Verwaltung, die damit verbunden ist, nicht spezifiziert. Der Begriff der “Nachfolge” (Istikhlaf) bezieht sich eher auf die kollektive Verantwortung der Gläubigen, das Territorium nach den göttlichen Geboten zu bewahren, als auf die Errichtung eines spezifischen politischen Systems. Die Verheißung gilt für die Gemeinschaft der Gläubigen, die durch Glauben und rechtschaffenes Handeln diese Verantwortung erhalten, ohne dass der Quran eine bestimmte Form der Regierung als notwendig vorschreibt.
Quran 5:50 (Surah Al-Ma’idah):
أَفَحُكْمَ الْجَاهِلِيَّةِ يَبْغُونَ وَمَنْ أَحْسَنُ مِنَ اللَّهِ حُكْمًا لِقَوْمٍ يُوقِنُونَ
“Wünschen sie etwa das Urteil der Unwissenheit? Wer könnte besser urteilen als Allah für Menschen, die fest im Glauben sind?”
Dieser Vers verweist auf die Überlegenheit des göttlichen Urteils gegenüber den unislamischen Praktiken der Zeit der “Jahiliyya” (der vorislamischen Unwissenheit). Während der Vers die Notwendigkeit betont, sich an göttlich inspirierten Prinzipien zu orientieren und eindeutige Urteile zu implementieren, wird auch hier keine explizite politische Struktur vorgeschrieben. Vielmehr geht es darum, die Gläubigen dazu aufzurufen, ihre Gesellschaft nach den ethischen und moralischen Prinzipien des Islams zu gestalten, ohne eine konkrete Regierungsform festzulegen.
Die untersuchten Quranverse betonen die Notwendigkeit von Ordnung, sozialer Kohäsion und gerechter Führung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Es wird die Bedeutung des Gehorsams gegenüber einer legitimen Autorität und die Vermeidung von Spaltung hervorgehoben, doch bleibt der Quran vage hinsichtlich einer spezifischen politischen Struktur. Weder wird ein Kalifat noch eine andere festgelegte Staatsform explizit als Pflicht beschrieben. Vielmehr betont der Quran universelle Prinzipien wie Gerechtigkeit, Einheit als Stärke zum Schutz und kompetitiver Vorteile und die Vermeidung von Chaos, während die Umsetzung dieser Prinzipien in verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Kontexten flexibel bleibt.
Tatsächlich gibt es normative Sachverhalte, die erst in der Prophetentradition erschlossen werden können oder in den Überlieferungen zu den Prophetengefährten. Auch da gelten dieselben Voraussetzungen, um den Anspruch einer klaren Verpflichtung zu erheben, bedarf es einer Fülle von eindeutigen und authentischen Beweisen.
Im nächsten Abschnitt wird die Analyse der Prophetentraditionen (Ahadith) vertieft, um zu untersuchen, ob aus diesen Texten eine konkrete Verpflichtung zum Kalifat oder einer spezifischen Staatsform abgeleitet werden kann.
Um die Diskussion über die religiöse Pflicht eines Kalifats umfassend zu beleuchten, ist es entscheidend, die relevanten Hadithe zu untersuchen, die häufig als Beweise für die Notwendigkeit eines Kalifats angeführt werden. Diese Hadithe zeigen jedoch bei näherer Betrachtung keine klare Aufforderung zur Errichtung eines Kalifats als verbindliche Regierungsform. Stattdessen sind sie häufig in einem spezifischen historischen oder gesellschaftlichen Kontext verankert. Im Folgenden werden die wichtigsten Hadithe, die in diesem Zusammenhang häufig erwähnt werden. Manche Überlieferungen sprechen zwar über ein Kalifat, aber ihr Wortlaut lässt sich nicht als Beweis für die Pflicht der Etablierung eines Kalifats als Regierungsform verwerten. Einige von ihnen sind darüber hinaus von fraglicher Authentizität. Obwohl sich die Überlieferungsqualität durchaus ausführen liesse, kann selbst bei der Annahme, dass alle unzweifelhaft authentisch sind, keine Pflicht zu einem Kalifat erstellt werden.
Abu Hurairah überlieferte, dass der Prophet sagte:
“Die Israeliten wurden von den Propheten regiert. Jedes Mal, wenn ein Prophet starb, folgte ihm ein anderer Prophet; doch nach mir gibt es keinen Propheten mehr, und es wird Kalifen geben, die in großer Zahl auftreten.”
Die Gefährten fragten: “Was befiehlst du uns (zu tun, wenn es mehr als einen Kalifen gibt)?”
Der Prophet antwortete: “Erfüllt den Treueeid gegenüber demjenigen, dem als Erstem Treue geschworen wurde, und gebt ihnen ihre Rechte; denn Allah wird sie für das verantwortlich machen, was ihnen anvertraut wurde.” (Sahih Muslim, 33:71)
Dieser Hadith beschreibt den Übergang von der Prophetie zu einer Kalifenherrschaft, gibt aber keine klare Anweisung, ein Kalifat als verpflichtende politische Struktur einzurichten, sondern bleibt eine rein deskriptive Prophezeiung. Es handelt sich eher um eine historische Darstellung der politischen Führung der Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten. Der Hadith spricht allerdings von der Bedeutung der Treue und Gehorsamkeit gegenüber der legitimen Autorität und Ordnung, ohne jedoch explizit ein Kalifat als allgemeingültige Regierungsform vorzuschreiben.
Nu’man ibn Bashir überlieferte, dass der Prophet sagte:
تَكُونُ النُّبُوَّةُ فِيكُمْ مَا شَاءَ اللَّهُ أَنْ تَكُونَ ، ثُمَّ يَرْفَعُهَا إِذَا شَاءَ أَنْ يَرْفَعَهَا، ثُمَّ تَكُونُ خِلَافَةٌ عَلَى مِنْهَاجِ النُّبُوَّةِ ، فَتَكُونُ مَا شَاءَ اللَّهُ أَنْ تَكُونَ، ثُمَّ يَرْفَعُهَا إِذَا شَاءَ أَنْ يَرْفَعَهَا، ثُمَّ تَكُونُ مُلْكًا عَاضًّا، فَيَكُونُ مَا شَاءَ اللَّهُ أَنْ يَكُونَ ، ثُمَّ يَرْفَعُهَا إِذَا شَاءَ الله ُأَنْ يَرْفَعَهَا ، ثُمَّ تَكُونُ مُلْكًا جَبْرِيّاً ، فَتَكُونُ مَا شَاءَ اللَّهُ أَنْ تَكُونَ ، ثُمَّ يَرْفَعُهَا إِذَا شَاءَ أَنْ يَرْفَعَهَا ، ثُمَّ تَكُونُ خِلَافَةٌ عَلَى مِنْهَاجِ النُّبُوَّةِ ، ُثمَّ سَكَتَ.
“Es wird unter euch Prophetentum geben, solange Allah es will, dann wird Er es aufheben, wenn Er es will. Danach wird es ein Kalifat nach dem Weg /der Methode des Prophetentums geben, solange Allah es will, dann wird Er es aufheben, wenn Er es will. Dann wird es eine beißende Herrschaft (Mulk) geben, solange Allah es will, und dann wird es eine tyrannische Herrschaft (Mulk Jabr) geben, bis Allah sie beendet. Danach wird erneut ein Kalifat nach dem Weg des Prophetentums folgen.”
(Musnad Ahmad, 18430, diese Überlieferung wird nicht von allen gleich authentisch eingestuft)
Dieser Hadith beschreibt die Abfolge politischer Systeme, beginnend mit dem Prophetentum, gefolgt von einem Kalifat, und später einer Monarchie und Tyrannei. Interessanterweise weist der Hadith nicht auf eine verpflichtende Errichtung eines Kalifats hin, sondern beschreibt vielmehr historische Entwicklungen und die Möglichkeit eines zukünftigen Kalifats. Es handelt sich um eine Prophezeiung, aber keine Anweisung, ein Kalifat als universelle politische Struktur einzuführen. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass keine andere Bezeichnung für Herrschaft außerhalb der damals bekannten erwähnt wird. In allen Überlieferungen wird entweder von Kalifat oder von Mulk (Herrschaft/Dynastie) gesprochen. Einerseits ist dieser Hadith thematisch der Eschatologie zuzuordnen und eine Prophezeiung, über deren Eintreten und Zeitpunkt mangels fundierter weiterer Texte und wissenschaftlicher Überprüfung nur spekuliert werden kann. Andererseits wird auch hieraus nicht klar, was genau der Weg oder die Methode des Prophetentums genau ist. Sollte es tatsächlich eine klare Staatsform beschreiben, dann ist diese Aussage aber überhaupt nicht aufschlussreich und damit in diesem Zusammenhang unbrauchbar.
Abu Hurairah überlieferte, dass der Prophet sagte:
“Allah hat keinen Propheten gesandt oder einen Kalifen ernannt, ohne dass er zwei Berater hatte: einen, der ihn zu Gutem aufrief, und einen, der ihn zu Bösem aufrief. Derjenige, den Allah schützt, ist vor dem Schlechten bewahrt.” (Sahih al-Bukhari, 1:678)
Dieser Hadith unterstreicht die moralische Verantwortung von Propheten und Kalifen, die von ihren Beratern beeinflusst werden. Er gibt jedoch keine Vorschrift zur Errichtung eines Kalifats. Es wird lediglich die Notwendigkeit guter Beratung und Gottes Schutz für die Führungspersonen betont.
Jabir ibn Abdullah berichtete, dass der Prophet sagte:
“Dieses Kalifat wird nicht enden, bis zwölf Kalifen unter ihnen gewesen sind, alle aus den Quraisch.”
(Sahih Muslim, 33:5)
Dieser Hadith wird oft zitiert, um die Legitimität der Kalifen aus dem Quraisch-Stamm zu betonen. Er gibt jedoch keine Anweisung, wie ein Kalifat eingerichtet werden soll, und legt auch keine allgemeine Verpflichtung zur Errichtung eines Kalifats fest. Der Hadith ist eher eine historische Vorhersage über die Zahl der Kalifen und ihre Abstammung.
Der Prophet sagte:
“Wenn einem zweiten Kalifen die Treue geschworen wird, tötet den späteren von beiden.” (Sahih Muslim, 1853)
Dieser Hadith betont die Notwendigkeit der Einheit und Loyalität gegenüber einer einzigen legitimen Führungsperson. Er richtet sich gegen Spaltungen innerhalb der Gemeinschaft, fordert jedoch nicht ausdrücklich die Errichtung eines Kalifats. Vielmehr wird hier die Bedeutung der Einheit innerhalb der islamischen Gemeinschaft betont.
Der Prophet sagte:
“Wer zu euch kommt, während eure Angelegenheiten unter einem Mann vereint sind, und versucht, eure Einheit zu spalten, tötet ihn.” (Sahih Muslim, 1852)
Auch dieser Hadith unterstreicht die Notwendigkeit der Einheit und den Widerstand gegen Spaltungen. Es handelt sich um eine Aufforderung zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und des Zusammenhalts, ohne jedoch eine spezifische politische Form wie das Kalifat vorzuschreiben.
“Wer stirbt, ohne einem Imam Treue geschworen zu haben, stirbt einen Tod der Jahiliyya.”
(Muslim, Hadith Nr. 1851)
Dieser Hadith wird von Muslim als authentisch (Sahih) eingestuft und betont die Notwendigkeit, einer Autorität (Imam) Treue zu schwören. Der Begriff “Imam” muss jedoch im weiteren Sinne verstanden werden: Er bezieht sich auf die Anerkennung einer autoritären Führungsperson innerhalb der Gemeinschaft und nicht zwingend auf das Kalifat als Regierungsform. Der Hadith spricht somit von der Wichtigkeit der Gemeinschaft und des Gehorsams gegenüber einer Führungsperson, ohne jedoch ein Kalifat als spezifische politische Form vorzuschreiben. Darüber hinaus spricht der Text von der Abwendung von Unordnung und Chaos im Gemeinschaftswesen.
Die Analyse dieser Prophetentraditionen zeigt, dass keine dieser Überlieferungen eine eindeutige und verbindliche Anweisung zur Errichtung eines Kalifats als spezifische Regierungsform enthält. Vielmehr betonen sie allgemeine Prinzipien wie die Bedeutung der Einheit, des Zusammenhalts der Gemeinschaft und der moralischen Führung. In einigen Fällen wird auf das Kalifat als historische Institution hingewiesen oder auf zukünftige Entwicklungen Bezug genommen, jedoch ohne einen klaren religiösen Auftrag, ein Kalifat in jeder Epoche der islamischen Geschichte einzurichten.
In den Überlieferungen werden wichtige Grundlagen wie “Loyalität”, “Treueid”, “Zusammenhalt”, “Einheit” angesprochen. Diese deuten vor allem darauf hin, dass in religiösen autoritativen Texten die Notwendigkeit einer Ordnung, die das Gemeinwohl der Menschen schützt, erkannt wird. Dies kann soweit gehen, dass in gewissen Situationen der zivile Gehorsam auch einem Tyrannen gilt. Dann nämlich, wenn ein Aufbegehren, absehbar nicht zum intendierten Ziel führen kann und zu einer Verschlechterung der Gesamtlage führt.
Es gibt tatsächlich mehrere Überlieferungen, die auf die Notwendigkeit hinweisen, Tyrannen zu ertragen, wenn ein Aufstand mehr Blutvergießen und Chaos verursachen würde. Eine oft zitierte Aussage des Propheten Muhammad (Frieden und Segen seien auf ihm) in diesem Zusammenhang lautet:
„Es wird nach mir Führer geben, die (sich) nicht an meiner Leitung halten und nicht nach meiner Tradition handeln. Unter ihnen werden Männer sein, deren Herzen die Herzen von Teufeln im Körper eines Menschen sind.“ Ich fragte: „Oh Gesandter Allahs, was soll ich tun, wenn ich so jemanden erlebe?“ Der Prophet sagte: „Du sollst ihnen gehorchen, auch wenn sie dir den Rücken schlagen und dein Hab und Gut wegnehmen.“ (Sahih Muslim, Hadith Nr. 1847)
Diese Überlieferung wird oft im Zusammenhang mit der Frage der Rebellion gegen ungerechte Herrscher zitiert. Es wird verdeutlicht, dass der Prophet Muhammad (sas) den Gehorsam auch gegenüber Tyrannen bevorzugt, wenn ein unwirksamer Aufstand zu einem schlimmeren Zustand, wie Blutvergießen oder Chaos, führen könnte. Es zeigt aber auch deutlich, dass eine vorgeschriebene Herrschaftsform nicht verpflichtend ist, denn eine religiöse Pflicht könnte auch ein Tyrann nicht niederbringen und dürfte so in einer Aussage vom Propheten (sas) nicht sanktioniert werden.
Der Hintergrund solcher Überlieferungen ist, dass soziale Stabilität und das Vermeiden von Bürgerkriegen im Islam von großer Bedeutung sind. Rebellionen, die zu unnötigem Blutvergießen und Chaos führen, werden stark kritisiert, insbesondere wenn der Schaden größer wäre als das Unrecht durch die Herrschaft oder das etablierte System selbst.
Insgesamt zeigt dies, dass der Prophet Muhammad (s) Frieden und Stabilität höher bewertete als eine unorganisierte und ineffiziente Rebellion gegen tyrannische Herrscher und Institutionen, wenn sie die Gemeinschaft weiter spalten oder schwächen würde und dem Gemeinwohl langfristig keinen grösseren Nutzen zu erweisen weiss.
Weiter wird in den autoritativen Texten auch vorgeschrieben, Verträge mit nicht-muslimischen Menschen, individuell oder im Kollektiv (Staatlich, Institution), auf allen Ebenen einzuhalten, einzig die Nichteinhaltung von Verträgen der anderen Vertragspartei oder der Eintritt in einen direkten Kriegszustand eines etablierten Staates ermöglicht es Verträge zu kündigen (HQ 9:4; 5:1)
Trotz dieser beiden Erkenntnisse ist ein Umkehrschluss nicht denkbar. Es käme keiner zum Schluss, dass der Islam deswegen Tyrannei oder Unglauben befürwortet oder gar vorschreibt. Das klingt auf Anhieb vielleicht verwunderlich. Nehmen wir andere Beispiele, um das zu verdeutlichen. Im Islam gibt es die Aufforderung Sklaven zu befreien (90:12; 24:33) und Armen, Waisen zu helfen (90:13-15). Daraus lässt sich allerdings nicht schliessen, dass die normativen Texte dazu auffordern, die Sklaverei proaktiv wieder einzuführen oder absichtlich Armut zu verursachen und Waisen zu generieren, weil angeblich eine religiöse Pflicht zur Sühne oder zu Almosen ermögliche. Genauso wenig kann von einem definitiven Verbot der Einführung eines Mindestalters für eine Nikah in einem bestimmten Kontext gesprochen werden, nur weil der Qur’an auch die Wartezeit von noch nicht menstruierenden Mädchen infolge einer Scheidung regelt. (HQ 65:4) Ebenso wenig wie aus den genannten Beispielen abgeleitet werden kann, dass der Islam Sklaverei, Armut oder Tyrannei durch indirekte Texte zur Pflicht macht, lässt sich daraus schließen, dass die Erwähnung von Autorität, Gehorsam und Einheit die Notwendigkeit eines Kalifats normativ vorschreibt. Der Gelehrte Ali Abdel Razek argumentierte in seinem berühmten Buch “Al-Islam wa Usul al-Hukm”, dass das Kalifat keine religiöse Pflicht sei, sondern eher eine historische und politische Institution. Trotz der heftigen Kritik, die ihm von konservativen Kreisen entgegenschlug, unterstreicht sein Werk wichtige Aspekte der Debatte um die islamische Herrschaft. Sein Ansatz, dass das Kalifat keine unverzichtbare religiöse Verpflichtung darstelle, traf vor allem von Befürwortern eines traditionellen Kalifatsmodells auf Widerstand. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass viele seiner Argumente und Analysen auch heute noch relevant sind und in den akademischen Diskurs Eingang gefunden haben.
Die Offenbarung interagiert mit dem Kontext und geht auf die grundlegendsten Möglichkeiten und Werte ein, die daraus aufgezeigt werden können. Aber nur weil diese Interaktion mit dem Kontext stattfindet, bedeutet dies nicht, dass die Restauration des gesamten Offenbarungskontext zu jeder Zeit und jeder Situation ebenfalls in die religiöse Verpflichtung einfließt.
Wenn von Einheit, Ordnung, Schutz, Treue, Recht und Pflicht die Rede ist, dann weil das einzelne Werte sind, die als Richtlinien in alle Zeiten übertragbar sind und in einem angepassten System integriert werden sollen. Die Form und noch nicht einmal der Name ist dabei vorgegeben. Dies soll im kommenden Abschnitt noch vertieft werden.
Während der ganzen Jahre in Medina hatte der Prophet (sas) durchaus erste Grundkonzepte für die Verwaltung der wachsenden Gemeinschaft gelegt, diese waren allerdings nicht zu einer vorgefertigten Form erwachsen. Die erschlossenen Quellen dazu lassen durchblicken, dass die Entwicklung seiner Gemeinschaft sich an den damals bekannten Modellen von Herrschaftsstrukturen orientierte. Selbst die Bezeichnung dieser Strukturen beschränkte sich mehrheitlich auf zwei Kategorien: Dynastie oder Kalifat im Sinne einer Vertretung eines Höhergestellten. Nach Rechtsforscher Abdurahim Al-Allam konnte archäologische Forschungen zeigen, dass der Begriff „Kalifat“ bereits vor dem Islam in arabischen Inschriften des 6. Jahrhunderts n. Chr. erwähnt wurde, in denen der Kalif als eine Art „Stellvertreter des Königs“ beschrieben wird. Dieser Befund deute darauf hin, dass das Kalifat weniger ein göttliches System war, sondern vielmehr eine Fortsetzung der bereits vorislamischen politischen Traditionen. Es scheint, dass die Muslime kein neues politisches System entwickelten, sondern das Kalifat als Fortführung dessen sahen, was sie bereits aus der vorislamischen Zeit kannten: die Notwendigkeit, dass ein Anführer über die Gemeinschaft herrscht, basierend auf sozialem Ansehen und natürlicher Auswahl. Die religiöse Lehre fügte diesem System lediglich zusätzliche Kriterien hinzu, wie den Vorrang im Glauben und die Opferbereitschaft zur Verbreitung der Botschaft oder eben Grundwerte, an denen sich die Herrschaftsstruktur orientieren soll.
Doch die Details zur praktischen Ausführung waren nachweislich reine Verhandlungssache und alles andere als klar vordefiniert. Es ist daher wenig erstaunlich, dass unmittelbar nach dem Tod des Propheten (sas) die Frage der zukünftigen Verwaltung der noch jungen Gemeinschaft aufgekommen war und die vorzufindenden Vorschläge große Differenzen in der Gemeinschaft offenlegen.
Während des Streits in der „Saqīfa von Banī Sā‘ida“ nach dem Tod des Propheten gab es einen heftigen Disput zwischen den Muhādschirūn und den Ansār darüber, wer das Recht habe, den Anführer der Gemeinschaft zu wählen. Umar ibn al-Khattab argumentierte, dass die Quraisch, der Stamm des Propheten, das größte Recht hätten, sein Erbe anzutreten und seine Herrschaft auszuüben. Auffällig ist, dass die Gefährten während dieser Diskussion keine religiösen Texte anführten, um die Notwendigkeit des Kalifats zu begründen. Dies legt nahe, dass die Entscheidung über die Nachfolge des Propheten eher politischer Natur und dem Umstand geschuldet war und weniger auf festen religiösen Grundlagen beruhte.
Die Wahl von Abu Bakr als erster Kalif nach dem Tod des Propheten Muhammad (sas) wird in mehreren Überlieferungen detailliert beschrieben, insbesondere im Sahih al-Bukhari, einem der authentischsten Hadith-Sammlungen. Eine Schlüsselüberlieferung, die die Ereignisse bei Bani Saqifa beschreibt, ist von Umar ibn al-Khattab (ra) überliefert, der eine zentrale Rolle bei der Wahl Abu Bakrs spielte.
In Sahih al-Bukhari, Buch 89, Hadith 326, schildert Umar die Ereignisse bei Bani Saqifa nach dem Tod des Propheten in einem umfassenden Bericht:
Text in Sahih al-Bukhari (Hadith 6830):
” فَقَالَ عُمَرُ إِنَّهُ تَكَلَّمَ قَالَ كَذَا وَكَذَا وَإِنِّي كُنْتُ فِيمَا قَالَ فِي جَمَاعَةٍ مِنَ الأَنْصَارِ قَالَ فَلَمْ أَرَ وَاللَّهِ أَوْفَقَ لِهَذَا الأَمْرِ مِنْ أَبِي بَكْرٍ … حَتَّى إِذَا بَايَعْنَا أَبَا بَكْرٍ جَلَسْنَا بَعْدُ مَعَهُ فَلَمْ يُفَتَّشْنَا فِي شَيْءٍ مِمَّا كُنَّا فِيهِ.”
Übersetzung: „Umar sagte: ‘Er sprach zu ihnen dies und jenes, und ich war unter den Anwesenden aus den Ansar. Ich schwöre bei Allah, ich sah keinen, der für diese Angelegenheit (das Kalifat) geeigneter war als Abu Bakr … Als wir Abu Bakr die Treue geschworen hatten, setzten wir uns mit ihm, und die Angelegenheit wurde nicht weiter überprüft.'”
Nach dem Tod des Propheten Muhammad (sas) versammelten sich die Ansar (die Unterstützer aus Medina) im Schatten eines Saqifa (ein überdachter Platz) des Stammes der Banu Sa’ida, um über die Nachfolge zu beraten. Sie waren der Meinung, dass einer von ihnen der nächste Führer der muslimischen Gemeinschaft werden sollte, da Medina ihr Territorium war und sie den Propheten unterstützt hatten.
Umar und Abu Bakr, die von diesem Treffen erfuhren, eilten dorthin, um die Situation zu klären. Es kam zu einer Debatte zwischen den Muhajirun (Emigranten aus Mekka) und den Ansar. Abu Bakr schlug zunächst vor, dass die Ansar einen ihrer Anführer auswählen sollten, und der andere sollte von den Muhajirun stammen. Die Ansar waren bereit, ihre eigene Führung zu behalten, boten jedoch an, dass die Führung geteilt werden könnte.
1. Stellung der Quraisch: Abu Bakr argumentierte, dass die Quraisch, der Stamm des Propheten, in der arabischen Gesellschaft das höchste Ansehen genoss und daher am besten für die Führung geeignet sei. Dies war ein wichtiger Aspekt seiner Argumentation. Abu Bakr betonte die Rolle der Quraisch als zentrale Einheit für die arabische Gemeinschaft. Hierbei stützte er sich allerdings nicht auf religiöse Argumente, sondern auf die soziale und politische Realität der damaligen Zeit.
Zitat von Abu Bakr:
„Die Quraisch sind der edelste Stamm unter den Arabern in Abstammung und Wohnort, daher sollen sie die Führung übernehmen.“
2. Vorschlag zur Treue gegenüber Abu Bakr: In der angespannten Situation erkannte Umar, dass Abu Bakr die Autorität besaß, die Gemeinschaft zu einen. Obwohl einige der Ansar zögerten, beugten sie sich schließlich dem Vorschlag, Abu Bakr als Kalifen zu akzeptieren, um die Einheit der Umma zu bewahren. Umar ergriff schließlich Abu Bakrs Hand und schwor ihm als Erster die Treue. Dies löste eine Kettenreaktion aus, und auch die Ansar schworen Abu Bakr die Treue.
3. Keine religiösen Argumente: Obwohl dies ein entscheidender Moment war, wurden keine klaren religiösen Beweise oder Ahadith angeführt, um Abu Bakrs Wahl zu legitimieren. Dies ist ein bemerkenswerter Aspekt der gesamten Diskussion: Omar hätte leicht religiöse Beweise zitieren können, wie den Hadith über die Quraisch, die als Führer bestimmt seien, aber stattdessen wurde die Debatte politisch und pragmatisch geführt.
4. Der Versuch der Ansar: Die Ansar, vertreten durch Sa’d ibn Ubadah, den Anführer der Khazraj, wollten die Führung beanspruchen. Es kam zu hitzigen Auseinandersetzungen, und es wurde klar, dass es keine religiöse Vorschrift gab, die eine der beiden Gruppen zwang, das Kalifat zu übernehmen.
5. Das Ende der Diskussion: Nach der Treuebekundung der Anwesenden für Abu Bakr wurde die Frage des Kalifats als geklärt angesehen. Die Wahl beruhte auf einem Konsens der Anwesenden und dem Wunsch, die Einheit der Umma aufrechtzuerhalten. Dies zeigt, dass das Kalifat aus einer pragmatischen Notwendigkeit heraus entstand, um die Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten zu leiten, und keine klaren religiösen Vorgaben erfüllte.
In vielen klassischen Werken der islamischen Geschichte wird dieses Ereignis dokumentiert, darunter:
➤ Ibn Ishaqs „Sira“
➤ Al-Tabari: „Tarikh al-Tabari“ (Band 3)
➤ Ibn Kathir: „Al-Bidaya wa al-Nihaya“ (Band 6)
Das Ereignis wird auch in den Werken von Ibn Sa’d und Al-Baladhuri detailliert beschrieben. Sie lassen gut erkennen, dass über die Frage der Herrschaft keine Einigkeit herrschte und vor allem keine vollumfänglichen normativen Vorgaben geltend gemacht wurden.
Ein weiteres Argument, das zeigt, dass das Kalifat keine festgelegte religiöse Pflicht war, sind die Ridda-Kriege (Abtrünnigkeitskriege), die unmittelbar nach Abu Bakrs Amtsantritt ausbrachen. Viele arabische Stämme verweigerten die Zahlung der Zakat und erklärten, dass sie nur den Propheten verpflichtet gewesen seien. Dies zeigt, dass sie ihre Loyalität gegenüber dem Propheten als eine persönliche Verpflichtung betrachteten, die nach seinem Tod erlosch.
Abu Bakrs Entscheidung, militärisch gegen diese Stämme vorzugehen, war eine politische und militärische Reaktion, um die Einheit der Gemeinschaft zu bewahren. Es gab keine normative Ambition einer bestimmten Form der religiösen Herrschaft , die diese Entscheidung unterstützten, sondern es ging primär darum, die Kontrolle über die Gemeinschaft zu festigen und einen Zerfall der Einheit zu verhindern.
Die Wahl der ersten Kalifen nach dem Tod des Propheten Muhammad (sas) stellt eine bemerkenswerte Vielfalt an Vorgehensweisen dar, die zeigt, dass es keine klar festgelegte oder religiös verpflichtende Methode zur Bestimmung eines Nachfolgers gab. Stattdessen wurden die Kalifen auf unterschiedliche Weise gewählt, was darauf hinweist, dass das Kalifat eher eine politische Notwendigkeit als eine religiös verpflichtende Institution war. Zudem zeigt dies, dass die Bezeichnung Khalifa (Stellvertreter oder Statthalter) vor allem aus den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen heraus entstand, in denen Stammesführer durch die Loyalität ihrer Gemeinschaften als Oberhäupter fungierten. Die Herrschaft vereinte mehrere Stämme, und dies geschah in der frühen islamischen Ära durch die Treuebekundung an einen gemeinsamen Anführer.
Wie bereits beschrieben, wurde Abu Bakr in einer spontanen Versammlung bei den Bani Saqifa zum Kalifen gewählt, unmittelbar nach dem Tod des Propheten Muhammad. Es gab keine festgelegten Prozeduren oder ein religiös vorgeschriebenes Wahlverfahren. Die Ansar hatten zunächst den Anspruch erhoben, einen ihrer eigenen Anführer zu wählen. Abu Bakr und Umar kamen jedoch hinzu und argumentierten aus politischen und sozialen Gründen, dass die Quraisch, der Stamm des Propheten, diese Führungsrolle übernehmen sollten. Umar schlug dann Abu Bakr vor, dem er sofort die Treue schwor, und die Anwesenden folgten. Dieser Prozess war weder formal geregelt noch beruhte er auf einem konsensualen religiösen System.
Zudem wurden keine Ahadith oder Koranverse während dieser Debatte herangezogen, um die Wahl religiös zu legitimieren. Der Fokus lag vielmehr auf praktischen und politischen Argumenten, wie der Wahrung der Einheit der Umma und der Vermeidung von Chaos.
Die Wahl des zweiten Kalifen, Umar ibn al-Khattab, erfolgte völlig anders. Abu Bakr, der erste Kalif, wählte Umar kurz vor seinem Tod persönlich aus und bestimmte ihn zu seinem Nachfolger, ohne dass eine Konsultation oder Abstimmung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft stattfand. Er tat dies, indem er in einem Gespräch mit einigen einflussreichen Gefährten die Entscheidung erläuterte und den Muslimen riet, Umar zu folgen. Dies zeigt deutlich, dass es keine festgelegte Vorgehensweise für die Kalifenwahl gab. Auch hier wurde keine religiöse Vorschrift oder ein Hadith zitiert, um die Entscheidung zu legitimieren. Es handelte sich um eine politische Entscheidung, um die Kontinuität und Stabilität der Gemeinschaft zu gewährleisten.
Es gab nach Abu Bakrs Tod keinen formellen Prozess, der auf einer religiösen Grundlage basierte, sondern Umar wurde allein durch den Willen seines Vorgängers zum Kalifen ernannt. Dies unterstreicht erneut, dass keine religiös vorgeschriebene Methode für die Wahl eines Kalifen existierte.
Nach dem Tod von Umar ibn al-Khattab wurde eine weitere Methode zur Wahl des Kalifen eingeführt. Umar ernannte ein Shura-Komitee, bestehend aus sechs prominenten Gefährten, die den nächsten Kalifen bestimmen sollten. Dieses Komitee bestand aus:
➤ Uthman ibn Affan
➤ Ali ibn Abi Talib
➤ Talha ibn Ubaidullah
➤ Zubair ibn al-Awwam
➤ Sa’d ibn Abi Waqqas
➤ Abd ar-Rahman ibn Auf
Das Komitee wählte nach internen Beratungen schließlich Uthman ibn Affan als Kalifen. Dies war ein weiterer neuer Ansatz zur Wahl des Kalifen, der sich von den vorherigen Methoden unterschied. Wiederum gab es keine einheitliche religiöse Regelung oder einen Hadith, der diese Vorgehensweise rechtfertigte. Es handelte sich um einen politischen Kompromiss, um die Gemeinschaft zu stabilisieren und den Konflikt zwischen den verschiedenen Fraktionen zu lösen.
Die Wahl von Ali ibn Abi Talib als vierten Kalifen war ebenfalls einzigartig. Nach der Ermordung von Uthman wurde Ali in einer Situation großer politischer Instabilität und Spaltung gewählt. Viele Menschen, darunter prominente Gefährten, drängten ihn zur Annahme des Kalifats, und die Treuebekundung erfolgte hauptsächlich unter Druck und inmitten von Aufruhr und Unruhen. Anders als bei den vorherigen Kalifen erfolgte Alis Wahl nicht durch ein formelles Konsultationsgremium, sondern durch eine allgemeine Zustimmung der Bevölkerung von Medina.
Auch hier zeigt sich die Abwesenheit eines festgelegten religiösen Prozesses zur Wahl eines Kalifen. Die Wahl von Ali war vielmehr das Ergebnis einer chaotischen und instabilen politischen Situation, die keine klaren Regeln oder Vorschriften kannte.
Diese unterschiedlichen Wahlmethoden zeigen deutlich, dass es keine festgelegte religiöse Verpflichtung oder eine spezifische Methode gab, um einen Kalifen zu wählen. Jeder Kalif wurde auf eine andere Weise bestimmt, was darauf hinweist, dass das Kalifat als Institution eher eine politische Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Einheit der muslimischen Gemeinschaft darstellte, anstatt eine göttlich vorgeschriebene Struktur zu sein.
Die Tatsache, dass in keiner der beschriebenen Wahlen der Kalifen klare religiöse Argumente oder Ahadith zitiert wurden, um den Prozess zu legitimieren, deutet darauf hin, dass das Kalifat in erster Linie eine politische und soziale Institution war, die den besonderen historischen Umständen nach dem Tod des Propheten entsprang. Der Begriff „Kalifat“ selbst war neben dem Begriff “Mulk” (Dynastie) in der arabischen Gesellschaft nicht neu und wurde für die Rolle des Statthalters oder Anführers verwendet, der die Stammesgemeinschaften leitete.
Das Kalifat wurde als Mittel angesehen, um die Einheit der Gemeinschaft zu bewahren und Anarchie zu verhindern. Doch seine Struktur und Form waren flexibel und veränderlich, abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Dies zeigt, dass das Kalifat keine religiös verpflichtende Staatsform darstellt, sondern eine politische Struktur, die sich aus den Umständen der Zeit heraus entwickelt hat.
Es lässt sich somit auch kein Konsens darüber feststellen , wie und was denn ein Kalifat oder ein Imamat genau sein sollte. Dies war eben Verhandlungssache unter den Gefährten und daran spalteten sich die Geister unmittelbar mit dem Übergang von der ersten in die zweite Nachfolgegeneration. Trefflicher als Abu l-Hassan Al-Ashari (gest.324/936) kann es kaum gesagt werden: “Die Menschen gerieten nach ihrem Propheten in viele Dinge in Uneinigkeit … und sie wurden zu verschiedenen, auseinandergehenden Gruppen … was sie in der Grundlage vereint ist der Islam. Und das erste, was an Uneinigkeit zwischen den Muslimen nach ihrem Propheten (Friede sei mit ihm) auftrat, war ihre Uneinigkeit über das Imamat (die Führerschaft).”
Insbesondere die Übergangszeit von Ali zu Muawyya war von Uneinigkeit über die Frage der Form der Herrschaft geprägt. Für die einen wurde das Kriterium zur Legitimation der Herrschaft die direkten Abstammung aus der Familie des Propheten und für andere die Abstammung aus der Bani Ummaya, später aus der Abstammung der Quraish im weiteren Sinne für die Abbasiden. Die Erbfolge ersetzte nunmehr die Bestimmung und nicht mehr die Beratung der Beteiligten oder noch die Kompetenz und Leistung.
Der Theologe Nur ad-Din Jari meint, es sei auffällig, dass sich das Kalifat unter den Abbasiden anders entwickelte als unter den Umayyaden. Während letztere ihre Herrschaft auf der Theorie der göttlichen Vorsehung zu stützen versuchten, indem sie sich die Ansicht der Fatalisten zu eigen machten, die besagten, dass die Taten des Menschen von Gott bestimmt seien und ihm nur symbolisch zugeschrieben würden, vertrat das Abbasidenkalifat die Theorie des göttlichen Mandats. Das bedeutet, dass der abbasidische Herrscher seine Autorität von Gott erhält und nicht vom Volk. Aus diesem Grund tauchten seit der Gründung des Abbasidenkalifats Titel auf, die mit Gott verbunden waren, wie: al-Hādī (der Rechtleitende), al-Rašīd (der Besonnene), al-Wāthiq (der Vertrauende), al-Mutawakkil (der sich auf Gott Verlassende), al-Qāhir (der Besiegende), al-Qādir (der Mächtige) usw. In beiden Kalifaten, dem umayyadischen und dem abbasidischen, wurden der Wille und die Freiheit des Menschen verneint, nicht aus einem anderen Grund, als das Verhalten der Herrscher und ihrer Höflinge zu rechtfertigen. Diese Verhaltensweisen und ihre Rechtfertigungen waren Faktoren, die zum Entstehen islamischer Sekten beitrugen.
Die meisten als autoritativ gewerteten Texte stammen aus dieser Zeit der Konflikte, weswegen manche von Gelehrten auch als fabriziert oder schwach gewertet wurden. Insbesondere dann, wenn ein Text zu deutlich auf den Konflikt hindeutete und somit eine nachträgliche Zuschreibung an den Propheten (sas) sein musste.
Die Frage, ob das Kalifat eine religiöse Pflicht ist, wurde im Laufe der islamischen Geschichte von verschiedenen Gelehrten unterschiedlich beantwortet. Während viele klassische Gelehrte das Kalifat als eine religiöse Notwendigkeit betrachteten, gab es auch andere Gelehrte, die diese Ansicht nuancierter darstellen. Diese Gelehrten vertraten oft die Auffassung, dass das Kalifat nicht unbedingt eine religiöse Pflicht, sondern eher eine praktische Notwendigkeit zur Sicherung der Ordnung in der muslimischen Gemeinschaft sei. Hier sind einige wichtige Gelehrte und ihre Ansichten dazu:
Al-Bāqillānī war ein prominenter Aschʿarī-Theologe und Jurist, der den Gedanken vertrat, dass das Kalifat nicht eine religiöse Pflicht per se sei, sondern eher eine Notwendigkeit für die Stabilität und Ordnung in der Gemeinschaft. Er argumentierte, dass das Fehlen eines Kalifats zwar Unordnung schaffen könnte, aber keine spirituelle Verfehlung darstellt. Al-Bāqillānī machte keinen direkten religiösen Imperativ für das Kalifat geltend und sah es primär als politisches Amt, das den Schutz der Scharia und die Wahrung der Rechte gewährleisten soll, aber kein göttlich vorgeschriebenes System ist.
Abū Bakr al-Asamm war ein Muʿtazilitischer Theologe, der eine radikalere Position einnahm. Er lehnte die Idee ab, dass das Kalifat eine zwingende religiöse Pflicht sei. Al-Asamm argumentierte, dass die Muslime auch ohne Kalif auskommen könnten, wenn sie die Scharia und die Gerechtigkeit auf andere Weise sicherstellen könnten. Seine Position war ungewöhnlich, aber sie zeigt, dass es eine Reihe von Ansichten innerhalb der islamischen Theologie gab, die das Kalifat als nicht zwingend notwendig ansahen.
Einer der bedeutendsten Theologen und Juristen der Schafi’i-Schule, erörterte in seinem Werk Ghayath al-Umam (“Die Rettung der Nationen”) die Frage der politischen Führung und des Kalifats. In diesem Werk stellt al-Juwaynī die These auf, dass die Aufrechterhaltung der islamischen Ordnung und Gerechtigkeit zwar durch ein Kalifat idealerweise erreicht werden sollte, es jedoch unter bestimmten Umständen möglich sei, ohne ein Kalifat auszukommen.
Al-Juwaynī argumentiert in Ghayath al-Umam, dass, wenn die Umstände so sind, dass es keine Möglichkeit gibt, einen Kalifen zu ernennen, die muslimische Gemeinschaft immer noch handlungsfähig bleiben muss. Er vertritt die Auffassung, dass in einer solchen Situation das Fehlen eines Kalifen keine Sünde darstellt, solange die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit und der Scharia gewahrt bleiben. Diese Position impliziert, dass das Kalifat keine absolute religiöse Pflicht ist, sondern dass das Wohl der Gemeinschaft (maṣlaḥa) und die Umsetzung der Scharia wichtiger sind als die bloße Existenz eines Kalifen.
Imām al-Juwaynī geht in seinem Werk noch weiter, indem er die Möglichkeit anspricht, dass in einer vollkommenen Notlage die Herrschaft auch ohne einen Kalifen und ohne islamisches System funktionieren könne. Damit widerspricht er der Vorstellung, dass das Kalifat eine unverzichtbare religiöse Institution sei, und deutet stattdessen an, dass die islamische Gesellschaft flexibel auf ihre Umstände reagieren sollte.
Al-Juwaynīs Ansichten in Ghayath al-Umam zeigen eine pragmatische Herangehensweise an das Thema des Kalifats. Seine Argumentation zielt darauf ab, die Muslime nicht an eine spezifische politische Struktur zu binden, sondern vielmehr sicherzustellen, dass die Umsetzung der Ziele des islamischen Rechts und der Schutz der muslimischen Gemeinschaft Priorität haben. In diesem Sinne steht seine Sichtweise im Gegensatz zu Gelehrten, die das Kalifat als unverzichtbare religiöse Pflicht ansehen.
Al-Juwaynīs Position bietet also eine wichtige Grundlage für die Argumentation, dass das Kalifat keine zwingende religiöse Notwendigkeit darstellt, sondern vielmehr eine flexible institutionelle Form, die je nach den Umständen der muslimischen Gemeinschaft variieren kann. Dies zeigt erneut, dass es innerhalb der islamischen Gelehrsamkeit keine einheitliche Meinung zur absoluten Notwendigkeit des Kalifats gibt.
Al-Ghazālī, einer der berühmtesten Theologen und Philosophen des Islams, hielt das Kalifat zwar für wichtig, aber er gab zu, dass es sich in einer späteren Phase der islamischen Geschichte verändert hatte und nicht immer den idealen religiösen Vorstellungen entsprach. In seinem Werk al-Iqtiṣād fī al-Iʿtiqād argumentiert al-Ghazālī, dass die Errichtung des Kalifats eine Mittel zum Zweck ist, also die Umsetzung der Scharia und der Sicherstellung von Gerechtigkeit. Falls diese Prinzipien ohne das Kalifat aufrechterhalten werden könnten, sei das Kalifat selbst nicht zwingend erforderlich.
Ibn Khaldūn, der große muslimische Historiker und Soziologe, sah das Kalifat eher aus einer soziologischen als aus einer rein theologischen Perspektive. In seiner berühmten Muqaddima schreibt er, dass das Kalifat ursprünglich als eine Institution geschaffen wurde, um die muslimische Einheit und Ordnung nach dem Tod des Propheten zu bewahren. Er argumentierte, dass es eher eine politische als eine religiöse Pflicht sei und dass die Praxis des Kalifats in den späteren Epochen, besonders während der Umayyaden und Abbasiden, mehr auf Stammesbündnissen und politischem Einfluss als auf religiösen Grundsätzen basierte. Selbst wenn er wie auch al-Mawardi in der Definition des Kalifats die Regelung aller weltlichen und religiösen versteht, beschränkt sich das religiöse
Al-Māwardī, der einflussreiche sunnitische Jurist, verfasste eines der bedeutendsten Werke über das Kalifat, Al-Aḥkām al-Sulṭāniyya (Die Regierungsverordnungen). In diesem Werk beschreibt er detailliert die Rolle und Funktionen des Kalifen, betont aber auch, dass die Gemeinschaft der Muslime eine gewisse Flexibilität in der Wahl ihres politischen Führers hat. Obwohl er das Kalifat als ideal ansah, erkannte er an, dass die politische Realität oft von den idealen islamischen Vorstellungen abwich. Für ihn war das Kalifat zwar als zwingende Notwendigkeit vorgeschrieben, sollte aber primär die Umsetzung der Scharia und den Schutz der muslimischen Gemeinschaft sicherstellen.
Selbst wenn al-Mawardi und ebenfalls ibn Khaldun in der Definition des Kalifats die Regelung aller weltlichen und religiösen verstanden, beschränkt sich das religiöse Amt auf die Sicherstellung der Möglichkeit der Kultusausübung. Aber auch sie schreiben dem Kalifat keine Heilsfunktion zu, insofern ist auch hier das Kalifat eher ein politisch und weltlich orientiertes Amt als eine normativ vorgegebene Amtsstruktur.
Es gibt mehrere Gründe, warum die Etablierung eines rechtswirksamen Konsens über die Frage des Kalifats als religiöse Pflicht nicht erreicht werden kann:
1. Verschiedene politische Realitäten: Die muslimische Welt entwickelte sich politisch in unterschiedlichen Kontexten. In der Frühzeit des Islams waren die Muslime geeint unter einer Führung, aber schon bald nach den ersten vier Kalifen zerfiel die Einheit. Dies führte zu einer dezentralisierten Machtstruktur, in der verschiedene muslimische Reiche existierten. Diese politische Realität erschwert die Vorstellung, dass das Kalifat eine religiöse Pflicht ist.
2. Abweichende Interpretationen des Korans und der Sunnah: Die religiösen Texte bieten keine klaren Anweisungen darüber, wie die politische Führung nach dem Tod des Propheten organisiert sein sollte. Der Quran erwähnt das Kalifat nicht explizit als religiöse Pflicht, und obwohl der Prophet Muhammad (s) seine Nachfolge thematisierte, hinterließ er keine eindeutigen Regelungen. Dies führte zu unterschiedlichen Interpretationen.
3. Theologische Strömungen: Innerhalb der islamischen Theologie gab es unterschiedliche Strömungen, wie die Muʿtaziliten, die rationalistische Ansätze vertraten, und die Aschʿariten, die eher traditionell waren. Diese Gruppen hatten unterschiedliche Ansichten darüber, inwieweit politische Fragen auch als religiöse Pflichten gesehen werden sollten.
4. Machtpolitik: Viele politische Führer und Dynastien nutzten religiöse Argumente, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Dies führte zu unterschiedlichen Begründungen für das Kalifat, oft in Abhängigkeit von der politischen Situation. Manche Dynastien, wie die Umayyaden und Abbasiden, machten das Kalifat zur dynastischen Monarchie und interpretierten es als göttliche Institution, während andere eher pragmatisch vorgingen.
5. Patronage und Abgrenzung: In der klassischen islamischen Welt spielte das Kalifat eine zentrale Rolle in der sunnitischen politischen Theologie, und viele Gelehrte verteidigten das Kalifat als religiöse Pflicht. Ein wesentlicher Grund dafür war ihre Nähe zu den Herrschaftsstrukturen. Viele Gelehrte erhielten Patronage von politischen Autoritäten, hohen Amtsträgern oder einflussreichen Persönlichkeiten, die selbst Teil der Herrschaftsstruktur waren. Diese Patronage sorgte dafür, dass Gelehrte oft in einem Abhängigkeitsverhältnis zur politischen Führung standen, was ihre Haltung zum Kalifat beeinflusste.
In Zeiten politischer Konflikte dienten die Gelehrten häufig als Legitimationsträger für die jeweiligen Herrscher, um deren Ansprüche auf Macht und Herrschaft religiös zu untermauern. Diese religiöse Unterstützung des Kalifats war ein Mittel zur Stabilisierung der politischen Ordnung. Zudem grenzte sich die sunnitische Welt mit ihrer Unterstützung des Kalifats von der schiitischen Vorstellung des Imamat ab. Die Schiiten glaubten, dass die Herrschaft in den Händen der Nachkommen von ʿAlī und Fāṭima liegen müsse, während die Sunniten das Kalifat als eine politische Institution betrachteten, die durch Konsens und die Wahl der muslimischen Gemeinschaft legitimiert war.
Dieser Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten verdeutlicht, dass der jeweilige Kontext, in dem das Kalifat diskutiert wurde, stark von politischen und sozialen Gegebenheiten beeinflusst war. Die Verteidigung des Kalifats als religiöse Pflicht entsprang also nicht nur theologischen Überlegungen, sondern war auch ein Produkt der Machtstrukturen und des gesellschaftlichen Umfelds. Der Einfluss dieser Kontexte ist weit größer, als in vielen Diskussionen zugegeben wird, und zeigt, dass das Kalifat stets in Bezug zu seiner jeweiligen Zeit und seinen politischen Bedingungen verstanden werden muss.
Obwohl viele klassische Gelehrte das Kalifat als religiöse Pflicht ansahen, gab es auch bedeutende Gelehrte, die anderer Meinung waren. Diese Uneinigkeit zeigt, dass das Kalifat keine zwingende religiöse Pflicht darstellt, sondern dass die Frage eher von politischen und sozialen Realitäten abhängig war. Die Tatsache, dass es keine einheitliche Praxis zur Wahl der Kalifen gab und dass das Kalifat in verschiedenen Formen existierte, unterstreicht die Flexibilität dieser Institution und die Abwesenheit eines klaren religiösen Konsenses.
Darüber hinaus fehlt die Klarheit von Anweisungen dazu in den autoritativen Texten. Alle mit dem Kalifat im Zusammenhang stehenden autoritativen Texte sind deskriptiver Natur oder fordern zu einem anderen Aspekt innerhalb der Verwaltung der Gemeinschaft oder Gesellschaft auf. Anders zum Beispiel beim Gebet, da sind die Anweisungen dicht und zahlreich vorliegend, um ein detailliertes Bild vom Gebet herzustellen. Dies fehlt in der Frage der Herrschaft komplett. Diese Abwesenheit eines wirklichen Konsenses der ersten Nachfolgegeneration lässt sich auch nicht über eine breit vertretene Position der Gelehrten kompensieren. Immerhin darf nicht vergessen gehen, dass Gelehrtenmeinungen zwar zur Konsultation bereichernd sein können, aber über keinen autoritativen zeitlosen oder kontextungebundenen Geltungsanspruch verfügen. Wenn die Gelehrten in ihrem Kontext jeweils zum Schluss kamen, dass Kalifat religiös zu verteidigen, muss dies nicht bedeuten, dass wir in unserem die gleiche Schlussfolgerung machen müssen. Das schariatische Ziel ist nicht das Kalifat, sondern die Verwirklichung der übergeordneten Ziele (maqasid). Das Kalifat war einst Mittel zum Zweck, das nun nicht mehr diesem dient und keine Realität mehr darstellt. Auch Gelehrte in der Moderne haben sich immer wieder positiv zum Kalifat geäußert. Bei näherer Betrachtung fehlt allerdings auch bei ihnen die klare Vorstellung darüber, was denn die konkrete Struktur eines Kalifats ist. Vielmehr scheint das Bedürfnis nach Einheit und der Stärke, die daraus erwächst, im Kalifat gesehen zu werden. Auch wenn beispielsweise Shaykh Al-Hassan Walad Al-Daddu das Vorhandensein des Kalifats in den Texte als Affirmation für die Notwendigkeit sieht, interpretiert er, dass das Kalifat nicht bedeute, dass es eine Führungsperson und die gleichen historischen Strukturen brauche, sondern durchaus ein Block oder eine gemeinschaftliche politische Institution sein könne, die die Muslime vereine und diesem Zweck diene. Darüber hinaus hält er fest, dass selbst die Rückkehr eines Kalifats, wie in der Überlieferung prophezeit, dem Kalifat der Anfangszeit in keiner Form ähneln werde, da der Prophet und Gefährten nicht anwesend sein würden. Dies sei lediglich als Wegweisung für die Werte eines Herrschaftssystems zu verstehen, das ähnlichen Grundwerten folgt und daher als “auf der Methode der Propheten” beschrieben werde. Ebenfalls sieht er, dass die vorhandenen Nationalstaaten als Grundlage genommen werden können, dass die Mehrheit der Menschen darin dem zustimmen müsste und vor allem die Entscheidungsträger in diesen Ländern von der Pflicht betroffen wären. Dies macht deutlich, dass er trotz seiner Befürwortung eines Kalifats eher von der realpolitischen Situation ausgeht und keine feste normative Pflicht einer Form darin versteht. Yaser Qadhi sieht eine andere Problematik im Fokus auf die Kalifatsdiskussion. Sie lenke von realen Problemen der Muslime ab und verleite zur Dogmatisierung einer Angelegenheit, die eigentlich kein Dogma darstellt. Darüber hinaus empfindet er die Darstellung der Etablierung eines Kalifats als Lösung aller Probleme stark romantisiert. Er hält fest, dass die schlimmsten Desaster in der islamischen Geschichte von einem Kalifat nicht verhindert wurden. Der Verlust von Andalusien wurde nicht abgewandt, trotz der Aufforderung nach Unterstützung. Die Rückeroberung Jerusalems fand nicht unter der Flagge des Kalifats statt, sondern einer parallelen Herrschaft der Ayyubiden, die trotz der Ablehnung des Kalifen den Eroberungszug durchgesetzt haben. Ebenso wenig wie in der Geschichte ein Kalifat alle Probleme lösen konnte, würde es dies in der Gegenwart. Wenn Muslime eine Verantwortung tragen, dann liegt diese darin, in der Gegenwart mit den vorhandenen Möglichkeiten und Gegebenheiten zu einer langfristigen Verbesserung der Lage beizutragen. Durch ihre Bildung, wirtschaftlichen Erfolg und Partizipation an der Entwicklung der Welt sollen sie Anschluss an den aktuellen Stand finden und diesen weiterentwickeln, anstatt angehalten zu werden, in die Vergangenheit zu “nostalgieren”.
Wenn Muslime in der Lage sind, eine eigene Herrschaftsstruktur zu definieren, weil sie in einem Kontext tatsächlich eine bestimmende Mehrheitsgesellschaft darstellen, obliegt es ihnen, diese so zu gestalten, dass sie die übergeordneten Ziele (Maqasid) der Scharia erfüllen und die grundlegenden ethischen Gebote, die unumstritten sind, als unveränderbare Verfassungsprinzipien festschreiben. Es ist ihre Verantwortung, diese einzuhalten und gleichzeitig das Gemeinwohl aller Bürger zu gewährleisten. Die Prosperität des Landes in all ihren Bereichen — wirtschaftlich, sozial und politisch — ist für das Wohl aller Bürger unerlässlich. Dem müssen sie selbst zustimmen.
Die Regierungsstruktur kann im Rahmen der bestehenden Nationalstaaten erfolgen und eine parlamentarische Demokratie, eine direkte Demokratie, eine parlamentarische Monarchie oder eine Republik sein — dies liegt im Ermessen derer, die sich in der Position befinden, diese Entscheidungen zu treffen. Auch internationale Bündnisse, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Natur, können den Zwecken der Einheit, des Schutzes und der Prosperität dienen.
Die Idee eines idealisierten Kalifats, das den realpolitischen Gegebenheiten der Gegenwart nicht gerecht wird, ist nicht nur irreführend, sondern schädlich. Sie lenkt von den eigentlichen Herausforderungen ab und verschlingt Ressourcen, die die muslimische Gemeinschaft bereits kaum zur Verfügung hat. Muslime im Westen oder in nicht muslimischen Gesellschaften sollen sich im Rahmen der vorhandenen Strukturen engagieren, diese affirmieren, ihre Rechte ausüben, ihre Pflichten wahrnehmen und an der Gestaltung der Alltagsrealität partizipieren und ihre Interessen wahren. Auch hier liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Bildung, dem sozialen Aufstieg, der finanziellen Kraft und dem Zusammenhalt und der Solidarität der Gemeinschaft innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Darauf sollten sich die kommenden Generationen fokussieren.
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“Das Kalifat ist die Lösung”: idealisierte Heilsgeschichte oder religiös erwiesene Pflicht?
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