Die Schweizer Bundesanwaltschaft stützt sich in ihrer Anklage gegen drei IZRS-Vorstandsmitglieder hauptsächlich auf einen Ermittlungsbericht der Bundeskriminalpolizei (BKP). Auf diesen sowie auf die Amtsberichte des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) hat der IZRS mit einer umfassenden Stellungnahme reagiert. Gestern veröffentlichte der Rat seinen umfassenden Bericht erstmals im Rahmen der Pressekonferenz in Bern.
Der „IZRS-Bericht“ wurde zusammen mit den Beweisanträgen der Verteidigung dem Bundesstrafgericht zur Kenntnis gebracht und am 8. Mai vom Gericht zu den Akten erkannt. Im Bericht wurde auf die wesentlichen Vorhalte eingegangen, wie sie im BKP-Bericht zusammengetragen worden sind. In der Schlussbetrachtung zeigte sich, dass jener BKP-Bericht keineswegs als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der komplexen Figur Dr. Abdullah al-Muhaysinî gelesen werden darf. Die Grundvoraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens in allen Fächern ist jeweils zumindest der Versuch einer objektiven Darstellung von Tatsachen, unabhängig davon, ob sie die Ausgangsthese des Forschenden untermauern oder dagegen sprechen. Der BKP-Bericht hingegen pflegt durchgehend eine eklektizistisch-negative Darstellung von Sachverhalten, mit dem Ziel, al-Muhaysinî als „führenden Vertreter der Al-Qaida/Jabhat an-Nusra“ in Syrien zu präsentieren und lässt die Aspekte, welche dagegen sprechen, ausser Acht. So funktioniert Wahrheitsfindung nicht im Bereich der Wissenschaften und hoffentlich auch nicht im Bereich der Justiz. Die Stellungnahme des IZRS zeigt einerseits alternative Interpretationen der wesentlichen Vorhalte sowie Mängel im BKP-Bericht auf und ergänzt jenen andererseits um einige der Aspekte, die ausgelassen worden sind.
Namentlich konnte aufgezeigt werden, dass die Ansprache „a lâ hal ballaghtu“ keineswegs als al-Muhaysinîs Anschluss an die Al-Qaida/Jabhat an-Nusra gelten kann. Vielmehr ging es bei seiner Drohung an al-Baghdâdî darum, die Aufkündigung seiner Neutralität gegenüber dem ISIS und seinen Anschluss ans Lager der Anti-ISIS-Koalition, bestehend aus den übrigen Rebellengruppen, in Aussicht zu stellen.
In einer z.H. des IZRS ergangenen Stellungnahme al-Muhaysinîs vom 27.3.2018 bestätigt jener seine seit 2013 konsistent gepflegte Rolle als unabhängigen Mujâhid und Jihâd-Theoretiker, wie in diesem Bericht ausgiebig dargelegt wird. Eine kongruente Einschätzung lieferte der ehemalige Berater für religiöse Angelegenheiten der Jabhat an-Nusra, Abû Sulaymân al-Muhâjir auf unsere Anfrage hin. Auch er stellt die behauptete AQ/Jabhat an-Nusra Mitgliedschaft al-Muhaysinîs kategorisch in Abrede. Al-Qaida-Forscher Tore Hamming kann diese Darstellung seinerseits bestätigen.
Was übrig bleibt, ist die Tatsache, dass al-Muhaysinî – wie mit zahlreichen anderen Gruppen – auch mit der Jabhat an-Nusra punktuell zusammengearbeitet hatte. Gemäss dem Syrien-Experte Charles Lister gilt dies aber für alle Akteure im Konfliktgebiet. Die Tatsache, dass es der Jabhat an-Nusra gelang, vorübergehend zur schlagkräftigsten Kampfgruppe aufzusteigen, war für alle übrigen Konfliktbeteiligten eine Herausforderung, mit der es einen taktisch klugen Umgang zu finden galt. Als selbsterklärter Schlichter kam al-Muhaysinî nicht darum herum, mit allen Gruppen gute Beziehungen zu pflegen. Daraus eine Mitgliedschaft abzuleiten, geht fehl. Wäre seine erklärte Unabhängigkeit lediglich einem über kurz oder lang zum Scheitern verurteilten Tarnmanöver geschuldet, würde er kaum bis heute als Schlichter etwa in den aktuellen Kämpfen zwischen HTS und JTS allerseits akzeptiert werden.
Die Ausführungen und zusätzlichen Stellungnahmen von Dritten zeichnen ein vollkommen gegensätzliches Bild dessen, was die Bundesanwaltschaft behauptet. Demnach war Abdullah al-Muhaysinî zum Zeitpunkt der beanstandeten Publikationen kein Mitglied der Al-Qaida, ihrem lokalen Ableger Jabhat an-Nusra oder einer verwandten Organisation, und er ist es bis heute nicht. Folglich kann es sich bei den beiden beanstandeten Publikationen auch nicht um Al-Qaida-Propaganda handeln.
Abschliessend bleibt die Bemerkung, dass Journalisten und andere informationsverarbeitende Akteure grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass sie das Recht haben, Informationen frei zu empfangen, aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen und zu verbreiten, wie dies die Bundesverfassung in Art. 16 Abs. 3 garantiert. Wird dieses Grundrecht beschränkt, so bedarf es klarer und nachvollziehbarer gesetzlicher Grundlagen. Eine Grundlage ist mit dem Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaïda» und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen zwar gegeben. Allerdings klar und nachvollziehbar ist diese gerade im vorliegenden Fall zumindest in der praktischen Auslegung offenkundig nicht. So muss den Informationsverarbeitenden auch eine klar eingegrenzte Definition geliefert werden, wer oder was zu Al-Qaida/IS oder verwandten Organisationen gehört. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das Gesetz zum Vehikel von Willkür und Zensur verkommt. Dieser Fall demonstriert die Problematik mustergültig. Naim Cherni produziert ein Interview und einen Dok-Film mit dem Ziel, die IS-Ideologie an der Basis ihrer Narrative anzugreifen. Der Interviewpartner al-Muhaysinî nennt sich selbst unabhängig und wird im syrischen Rebellenspektrum – wie aufgezeigt werden konnte – umfassend respektiert. Obwohl weder der Interviewpartner noch die mit ihm in Verbindung stehende Jaysh al-Fath auf einer SECO- bzw. UN-Sanktionsliste stehen, behauptet die Bundesanwaltschaft, al-Muhaysinî sei ein Mitglied der Al-Qaida und eröffnet ein Strafverfahren. Im Laufe dieses Verfahrens hat sich gezeigt, wie schwer es der Bundeskriminalpolizei fiel, ihren Indizienkorpus zusammenzutragen. Das Resultat: über 500 Seiten BKP-Bericht inkl. Nachträge, mehrere NDB-Amtsberichte und 40 Seiten Übersetzungen in über einem Jahr Arbeit.
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