'Abida: Recht und Moral sind subjektiv.
‚Abida: Recht und Moral sind subjektiv.

«Eine Studienreise nach Israel/Palästina? Ab in den Flieger und los, Strand kann ja jeder und spannender ist’s auf jeden Fall», sagte die 23-jährige Studentin ‚Abida aus Zürich und brach auf in den nahöstlichen Krisenherd.

Von ‚Abida*

Zugegeben, blauäugig habe ich mich nicht darauf eingelassen, aber sicherlich mit einer guten Portion Unbedarftheit im Gepäck.
Letztlich war es nicht das politische Hin und Her zwischen den Konfliktparteien, verbunden mit etwas historischem Sightseeing, das meine grauen Zellen bei der sowieso schon wesentlich intensiveren Sonneneinstrahlung und den daraus resultierenden Temperaturen ins Schwitzen brachte. Es waren die normalen Menschen, die ich traf und mit denen ich sprach, die mich recht bald und sehr deutlich an eine Diskussion mit einem Kommilitonen zurückdenken liessen, ob Recht und Moral objektiv seien. Ich vertrat dort vehement die Auffassung, dass eben diese Werte subjektiv seien, beeinflusst von unserer Umwelt, der Familie, der Kultur oder dem politischen System, in dem wir aufwachsen und leben. Ich gestand meinem Gegenüber lediglich zu, dass zumindest im Resultat die meisten Gesellschaften ein weitestgehend kohärentes Verständnis der grundlegendsten Rechte und des moralischen Handelns entwickelt haben, die ein gesellschaftliches Zusammenleben nach dem Motto: „Was du nicht willst, dass man dir tut, dass füg auch keinem and’ren zu“ ermöglichen.

Nun wäre mir nicht gerade diese Begebenheit wieder in den Sinn gekommen, wenn mich nicht die Einsichten, die ich in das Leben der Palästinenser bekommen habe, und von denen ich im Folgenden berichten möchte, eines Besseren belehrt hätten. Das Leben in der Gegend, die heute Israel und die palästinensischen Gebiete umfasst, ist seit fast einem Jahrhundert geprägt von einem Konflikt, der tiefer und vielfältiger ist als die meisten, denen wir anderswo gegenüberstehen. Es ist ein Konflikt um Macht, nationale Identität, ein wenig Religion und vor allem Land, das Ganze angefeuert und ausgeschmückt von instrumentalisierten und weitestgehend stilisierten Geschichtsbildern die von historischem Unrecht, den ewig Verfolgten, den Urfeinden usw. zu berichten wissen. Wir haben es hier nicht mit einem akuten Konflikt im Sinne eines offen ausgetragenen Krieges zu tun, es herrscht eine Art Schwebezustand: zwei Nationen wenn man so will, ein Land und dazwischen die grüne Linie, eine Waffenstillstandslinie mit eher zweifelhafter Autorität – soweit die Thematik. Die Leidtragenden des Konfliktes aber sind Menschen, die irgendwie zwischen all dem ihr Leben leben, arbeiten und ihre Hobbies haben, mit ihren Familien lachen und weinen, Träume und Ziele haben und sie anstreben – zum Beispiel Studenten genau wie wir hier an der Uni Zürich. Nur der Alltag, der ist eben ganz und gar nicht der Gleiche, es ist ein Alltag unter dem Einfluss einer fremden Regierung, die einen nicht unerheblichen Teil ihres Lebens reglementiert und die erst 2004, nach fast 60 Jahren ihres Bestehens, begann darüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit sei, die Inhalte der 4. Genfer Konvention anzunehmen, die der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete Schutz vor Willkür und Gewalt zusichern.

Sie studieren Film, Zahnmedizin, Internationales Recht oder Menschenrechte und besuchen die palästinensische al-Quds Universität in Jerusalem, eine Institution mit einer vergleichsweise kurzen aber wechselhaften Geschichte, die sich bereits vielen Problemen gegenüber sah und deren Glück es vielleicht ist, seit 1995 Sari Nusseibeh als ihren Direktor zu haben, einen palästinensischen Gelehrten und politisch Aktiven, der sich offen gegen Gewalt und Extremismus ausspricht und gleiches auch von seinen Studenten verlangt. Schon der Status der 1984 gegründeten Universität ist ein schwieriger: Bis auf das Hauptbüro, das sich in Ostjerusalem befindet, liegen eigentlich alle Gebäude dieser Universität ausserhalb der Grenzen Jerusalems, da eine solche palästinensische Einrichtung innerhalb der Stadt nicht erwünscht war und ist. Ihre Abschlüsse werden weltweit anerkannt, nicht aber von Israel, denn es handle sich bei der Institution um keine ausländische, wegen des Standortes ihres Hauptbüros, und als israelische Universität wird sie ebenfalls nicht akzeptiert, da sie ohne Lizenz arbeitet, die ihr verweigert wird.

Es gab bereits mehrere Versuche der israelischen Regierung, die Universität zu schliessen oder ihr zumindest den Lehralltag so schwer wie möglich zu machen. Im Jahr 2002 wurde beispielsweise das Hauptbüro des Direktors geschlossen, dessen Unterlagen beschlagnahmt und ausgewertet. Darüber hinaus wurden die Einrichtungen der medizinischen Fakultät, eine der besten in der arabischen Welt, von der israelischen Armee besetzt und das Interieur zerstört. Dieser Aktion folgten regelmässig kleinere Nadelstiche, aber vor allem in Folge der jüngsten Eskalation bezüglich Gaza kam es zu mehreren schweren Zwischenfällen mit bewaffneten, israelischen Soldaten, die gewaltsam versuchten auf das von Gaza knapp 100km entfernt, im Westjordanland liegende Universitätsgelände zu gelangen und bei denen viele Studenten durch Tränengas oder körperliche Übergriffe zum Teil ernsthaft verletzt wurden. Unabhängig davon ist im Normalfall für die Meisten wohl der alltägliche Schulweg das gravierendste Problem. Sie müssen ihr Zuhause wesentlich früher verlassen, als es nötig wäre um pünktlich zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen. Ihr Weg wird von mindestens ein oder zwei israelischen Checkpoints unterbrochen, je nach Wohnort variierend. Diese Kontrollpunkte sind teilweise in die seit 2003 errichtete Mauer integriert, die eigentlich entlang der Demarkationslinie zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten verlaufen sollte, es rein faktisch aber nicht tut, sondern weit innerhalb palästinensischen Territoriums, und die ausserdem um permanent mit bewaffneten Armeeangehörigen besetzten Türmen erweitert ist. Dienen soll dies dem Schutz der israelischen Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen. Der grösste Teil der ca. 550 festen, israelischen Checkpoints befindet sich jedoch nicht, wie man vermuten könnte, an den Grenzen, sondern innerhalb der palästinensischen Gebiete. Welche weitreichenden Folgen das für jeden einzelnen Bürger im Alltag, aber auch für den Transport von Gütern, Medikamenten und für den Handel hat, darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. An diesen Checkpoints jedenfalls werden alle, auch die Studenten, angehalten und durch einen Gitterkäfig geführt, umgeben von Stacheldraht und auf beiden Seiten versehen mit einem jeweils ca. 2 Meter hohen Drehkreuz. Ihre Ausweise werden kontrolliert, sie werden durchsucht, müssen durch einen Metalldetektor gehen und das alles unter den Augen von schwerbewaffneten israelischen Soldaten, oft um die 20, denen ich persönlich weder Sympathie noch ein sonderlich grosses Vertrauen entgegen bringen konnte. „Man hofft immer, dass sie schlechte Laune haben, dann winken sie einen einfach durch, aber gute Laune ist schlecht, dann kann es sein, dass sie sich einen Spass daraus machen, dich extra lange zu durchsuchen oder warten zu lassen!“, ist nur eine von vielen Aussagen, die ich gehört habe. Aber es bleibt den Palästinensern nichts anderes übrig, als das hinzunehmen, selbst wenn sie ohne Grund manchmal für Stunden aufgehalten werden, einfach warten und stehen und hoffen, dass es endlich weiter geht, dass sie es noch rechtzeitig zum Unterricht oder zur Prüfung schaffen. Und selbst wenn dieser Zug zu oft schon abgefahren ist, wünschen sie sich, doch wenigstens endlich rauszukommen aus der prallen Sommersonne oder dem starken Winterregen, den der kalte Wind auch noch in die letzten Ritzen der Kleidung treibt und dem schon so manche Erkältung gefolgt ist. Wenn sie dann abends auf dem Rückweg von einem langen Tag an der Uni die gleiche Prozedur wieder über sich ergehen lassen müssen und es dann doch mal nach Hause geschafft haben, sind die Studenten oft so müde und so schlecht gelaunt von den Stunden, die sie anstatt sie zum Lernen oder um Freunde zu treffen nutzen konnten, an irgendeinem Checkpoint verbracht haben, dass sie eigentlich nur noch ins Bett wollen.
Dass eine solche Situation alles andere als förderlich für ein Studium ist, ganz abgesehen von den enormen Einschränkungen im Alltag, wird, denke ich, deutlich und damit hat die Geschichte leider noch nicht ihr Ende gefunden. Allzu oft kommt es nämlich vor, dass die Checkpoints einfach ganz geschlossen bleiben oder israelische Soldaten am Eingang der Universität warten, die Taschen kontrollieren, die Studenten durchsuchen und vom Unterricht abhalten oder einfach mit ihren Jeeps durch die Strassen fahren und sie verstopfen. Die rechtliche Grundlage für solche Aktionen vor und auf dem Geländer der Universität ist offensichtlich nicht gegeben, aber das ändert leider nichs an den Tatsachen: „Es ist einfach etwas, was sie tun, um uns zu behelligen, um unseren Weg zur Universität schwieriger zu machen, um uns vom Studieren abzuhalten“, wie mir eine Studentin sagte, von der ich auch erfuhr, dass sie zwar selbst noch keine körperlichen Übergriffe erfahren musste, aber von einigen ihrer Kommilitonen zu berichten weiss, die weniger Glück hatten. Trotz all dieser Widrigkeiten, welche die morgendlichen Dramen, die sich bei uns an so manchen Bahnhöfen abspielen, wenn der Zug zur Uni oder zur Arbeit einmal 10 Minuten Verspätung hat, doch ziemlich lächerlich erscheinen lassen, hat mich beeindruckt, mit wie viel Ehrgeiz, Hoffnung und Elan diese Studenten ihr Leben angehen.
Da ist ein Mädchen, das sich selbst sechs Sprachen beigebracht hat, das die verschiedensten Social Networks nutzt, um ihre Meinung, ihre Kultur und ihr Leben nach aussen zu tragen, frei nach dem Motto: wenn ich nicht in die weite Welt reisen kann, dann suche ich mir eben einen anderen Weg Neues zu erfahren. Und immer wieder sind es die Lehrer, Professoren und die eigene Familie, die die junge Generation antreiben, ihre Träume zu verwirklichen, auch wenn sie aus eigener Erfahrung wissen, dass viele Ziele vielleicht nie erreicht werden können. Aufgeben ist keine Option. Nicht nur einmal habe ich den Satz gehört: „Wenn wir aufhören würden zu hoffen, dann könnten wir uns ja gleich umbringen“. Das klingt in unseren Ohren vielleicht etwas heftig, aber das ist, was diese Menschen fühlen: Mach aus jedem Tag das Beste und höre nie auf zu kämpfen.

Meine Ferien in diesem Jahr mit einer Studienreise nach Israel/Palästina zu verbringen, halte ich für eine der grossartigsten Erfahrungen, die ich erleben durfte. Gestartet bin ich in der Erwartung, Neuem zu begegnen, mich mit den Konflikten der Region zu beschäftigen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und die gegenwärtige Situation mit eigenen Augen zu sehen, um mir mein ganz persönliches Bild zu machen. Diese Erwartungen wurden vollkommen übertroffen: Vor allem die intimen und privaten Einblicke, die ich bekommen durfte und die bei weitem über das hinausgehen, was ich hier in diesem kleinen Ausschnitt beschreiben konnte, sind das, was ich mit nach Hause gebracht habe und was ich hoffentlich ein ganzes Leben in meinem Herzen tragen darf. Es sind die Menschen an die ich mich erinnere, mit ihrer unglaublichen Herzlichkeit, oftmals entwaffnenden Offenheit und ihrer Stärke, ihrem Glauben daran, dass sich irgendwann etwas bewegen wird, dass sie irgendetwas bewegen werden, hin zu einer besseren Lebenssituation. Sie haben mir das Bewusstsein geschärft dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in einem Umfeld zu leben, in dem die Prinzipien der Rechtsgleichheit und der Freiheiten für alle die Basis des Zusammenlebens sind, dass Gerechtigkeit eben kein objektives Gut ist, sondern ein doch eher subjektives, denn ansonsten liesse sich das Entstehen und Fortbestehen solcher Zustände unter denen manche, wie hier die Studenten der al-Quds Universität zurechtkommen müssen, nicht erklären.

Gerechtigkeit ist eigentlich ein klar definierter Begriff und doch tun wir uns schwer damit. Auch wir hier gestehen uns gerne Rechte zu, die wir anderen verweigern möchten, ja so mancher gesteht sogar seiner Handtasche im Zug das Recht auf einen Sitzplatz zu, das er gleichzeitig einem Mitmenschen verweigert. Es fängt bei kleinen Dingen an und kann unter bestimmten Umständen zu etwas Grossem und Unheilvollem werden. Um das zu verhindern, um dem Ideal einer Gesellschaft mit objektivem Recht ein Stückchen näher zu kommen, sollten wir nicht nur im Hinterkopf behalten, was andernorts passiert und dankbar sein, dass wir es besser haben, sondern auch aktiv etwas dazu beitragen, dass uns dieses Privileg erhalten bleibt und verbessert wird. Fangen wir doch bei uns selbst an und versuchen auch wirklich immer zu beherzigen was einst Rabbi Samuel Laniado sagte: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“.

*’Abida, der bürgerliche Name ist der Redaktion bekannt, ist 23 Jahre alt. Sie studiert an der Universität Zürich Islamwissenschaft und Geschichte. Als 20-Jährige kam ‚Abida auf der Suche nach Arbeit als Balletttänzerin aus Deutschland in die Schweiz. Angetrieben von der meist tendenziösen Medienberichterstattung setzte sie sich intensiver mit dem Islam und dem Nahost-Konflikt auseinander und fand schliesslich auf der Suche nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit ihr neues Leben als gläubige Muslima.

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