Berlin/Bern, 12.04.2012
Von Abdel Azziz Qaasim Illi
25 Millionen Qur’ane in deutscher Sprache – oder «in jedem Haushalt ein Qur’an», lautet das Credo der Gruppe um den deutschen Prediger Abou Nagie. Die Aktion hatte um Ostern einen ersten Höhepunkt erreicht, nachdem in 35 deutschen Städten entsprechende Verteilaktionen in den Fussgängerzonen stattgefunden haben. 300‘000 Exemplare sollen gemäss eigenen Angaben bereits ausgeliefert worden sein.
Entsprechend interessant erscheint das Thema auch den deutschen Medien. Dies zumal an Ostern die Redaktionen ruhen und nicht gerade viele Nachrichten produziert werden. «Die Welt» publiziert seit Ostersonntag einen Leitartikel nach dem anderen. Auf ihrer Webseite hat sie sogar eine eigene Leitrubrik mit dem Namen «Koran-Initiative» aufgeschaltet. «Bild» und andere absatzstarke Blätter versuchen wacker mitzuhalten. Die Geschichte eines medial konstruierten Skandals nimmt ihren Lauf.
Zuerst äusserten sich Verfassungsschützer verschiedener Bundesländer «besorgt» über das Projekt. Dann folgten die Parteien, allen voran die Union (CDU/CSU) aber auch die Grünen, die SPD und die Kirchen reagieren auf den medial mittlerweile eskalierenden Skandal und melden ganz im Sinne der heissgekochten Leserschaft ihre künstliche Beunruhigung an. Freilich, wird auf allen Seiten beteuert, sei nicht der Qur’an an sich Grund zur Besorgnis, sondern die Urheberschaft der Verteilaktion. Schliesslich handle es sich bei der Gruppierung um Salafisten, deren Gedankengut «radikal» und «demokratiefeindlich» sei. Die Union möchte indes mit brachialen Mitteln gegen die Aktion vorgehen. «Wo immer dies möglich ist, muss diese aggressive Aktion gestoppt werden», sagte Unions-Bundestagsfraktionsvize Günter Krings der Düsseldorfer «Rheinischen Post». Wo dies nicht möglich sei, müssten die Nachrichtendienste mit umfassenden Überwachungsmassnahmen die Aktion im Auge behalten.
Die künstlich geschaffene Medienhysterie zeigte am Mittwochabend erste praktische Auswirkungen, als die Ulmer Druckerei Ebner & Spiegel unter dem massiven öffentlichen Druck bekannt gab, die Auslieferung weiterer Qur’an-Exemplare zu stoppen. «Wir werden die Auslieferung stoppen und juristisch prüfen, welche Folgen sich daraus ergeben», sagte ein Sprecher und «wir drucken nichts, was extrem im Sinne von islamistisch ist.» Mehrmals seien Kriminalpolizei und Verfassungsschutz in der Druckerei in Ulm gewesen. Die Beamten hätten dann aber gesagt, die Qur‘an-Version sei unbedenklich.
Der von den Ereignissen sichtlich überforderten Druckerei – an sich ist es schon erstaunlich, dass eine Druckerei einen Pressesprecher braucht – einen Vorwurf zu machen, wäre verfehlt. Kein wirtschaftlich orientierter Betrieb kann es sich leisten, gegen die geballte Macht des nunmehr tobenden Anti-Qur’an Diskurses weiter Widerstand zu leisten. Die unbeholfene Kommunikation, «wir drucken nichts, was extrem im Sinne von islamistisch ist», zeigt die Verzweiflung der Geschäftsleitung, die ja auch nur ungern aus dem sicherlich interessanten Grossauftrag aussteigt.
Diskurs kratzt an Grundrechten
Man kann das Projekt auch aus muslimischer Sicht durchaus hinterfragen. Aiman Mayzek vom Zentralrat der Muslime in Deutschland sieht im massenhaften Verteilen der Heiligen Schrift auch ein ganz praktisches Problem. Wenn der Qur’an wie Broschüren verteilt werde, bestehe die Gefahr, dass das Buch letztlich bei einigen Passanten mangels Interesse im Altpapier lande. Auch bestehen von verschiedener Seite wohl berechtigte Zweifel hinsichtlich einiger am Projekt beteiligter Personen. Doch ist das nicht normal? Wiederspielgelt es nicht gerade den vom deutschen Grundgesetz klar geforderte Pluralismus der Gesellschaft? Oder brauchen Salafisten erst das nihil obstat vorgeschalteter Zensurbehörden, bevor sie ihrem Missionseifer Lauf lassen dürfen?
Tatsache ist, dass die in Frage stehende rein deutsche Übersetzung des Qur’ans keine salafistische Exegese beinhaltet, sondern lediglich auf der weitverbreiteten deutschen Edition Muhammad ibn Rassouls aufbaut, wobei einige Passagen «korrigiert» worden seien. Es handelt sich also um nichts anderes als um eine kommentarlose Neuauflage einer altgedienten deutschen Qur’an Übersetzung, die von eifrigen jungen Muslimen in grosser Auflage gratis an die deutsche Öffentlichkeit abgegeben werden. Sollten einzelne Aktivisten darunter einer «radikalen Ideologie» anhängen, ändert dies einerseits nichts an der hoffentlich allgemein anerkannten Unbedenklichkeit des Heiligen Qur’ans und nichts an ihrem Recht, diesen frei und ungestört verbreiten zu dürfen.
Solange sich die Aktivisten an die geltende Rechtsordnung halten, kann die ihnen zugeschriebene «radikale Ideologie» kein hinreichender Grund für eine quasi präventive Einschränkung ihrer Grundrechte sein. Staat und Gesellschaft, vor allem aber die Medien müssen sich vor Augen halten, dass Pauschalurteile und die Applikation komplexer Kategorien (Salafismus) zumal im grösseren Zusammenhang mit dem Islam-Diskurs heikle Auswirkungen auf die ohnehin stark verunsicherten Diskurs-Konsumentinnen und Konsumenten haben können. Die auf Skandale ausgerichteten Onlinemedien bringen weder die Absicht noch das nötige Verständnis auf, um die entsprechend komplexe Strömung des Salafismus mit der nötigen Differenziertheit zu betrachten.
Sollte der öffentliche Druck im vorliegenden Fall eine Weiterführung des Qur’an-Projekts verhindern, so müssten sich nicht nur Muslime in Deutschland ernsthaft Sorgen über die praktische Anwendbarkeit der Grundrechte machen. Schliesslich ist den Aktivisten ja zugute zu halten, dass sie mit ihrem Projekt offen und für alle inklusive Verfassungsschutz sichtbar für ihre Sache einstehen. So bedienen sie sich denselben demokratisch-rechtsstaatlichen normativen Korridoren, denen sich auch der Gideonbund bedient, der seit Jahrzehnten nicht nur in Deutschland, sondern weltweit Millionen von Bibeln verteilt. Über deren verborgene Absichten und Träume von der besseren christlichen Welt wagt auch niemand zu spekulieren.