Bern, 31.07.2010

Von Abdel Azziz Qaasim Illi

Letzten Mittwoch (28.7.2010) strahlte der Sender 3Sat den SF1 Dok-Film «Muslim-Report» von Karin Bauer aus und machte damit den tendenziösen, von Schweizer Muslimen heftig kritisierten Streifen einem erweiterten deutschsprachigen Publikum zugänglich.

Ein Focus-Redakteur schrieb am Donnerstagmorgen einen interessanten Kurzkommentar über die Schweizer Produktion Bauers. Er gibt Einblick in die diskursiven Strukturen der deutschen «Islam-Debatte» und markiert bewusst oder unbewusst die Differenzen zum Schweizer Kontext. Inhaltlich trägt der Text wohl eine Hauptbotschaft: Die Schweizer sollten aufhören den Muslim in altorientalistischer Manier durch die Brille der islamischen Normativität zu bewerten, sondern vielmehr die Brille der «kulturellen Realität» aufsetzen. Damit würde wie in Deutschland ein Islam-Bild resultieren, welches dem westlichen Lebensstil viel angepasster erscheint und das Festhalten an religiösen Normen endgültig in den Bereich des irren Fundamentalismus verdammen. «Alkohol-Konsum unter Muslimen» müsste dann Frau Bauer genausowenig erstaunen, wie Türkinnen, die «nächtelang ohne Kopftuch in der Disco tanzen».

Die moderne Orientalistik, seit Edward Said’s vernichtender Kritik eher unter dem euphemischen Synonym «Islamwissenschaft» bekannt, gehört zu den aktivsten Befürwortern einer solchen kulturell determinierten Wahrnehmung des Islamischen. Während die Altvorderen dieser Zunft den Muslim fast durchgehend noch als Idealtypus und immer in Abhängigkeit seiner Religionsgesetze beschrieben, findet seit den 1970er Jahren ein starker Wandel statt. Heute betonen die meisten Islamwissenschaftler die Vielschichtigkeit ihres Forschungsgegenstands und wehren sich gegen die sicherlich vereinfachende Wahrnehmung des Islams als monolithisches, in sich absolut zusammenhängendes Ganzes. Zuweilen führt diese Weitwinkelperspektive zu unintendierter, innerhalb der seriösen Wissenschaft aber eher selten zu ideologisch bedingter, Ignoranz gegenüber muslimischer Glaubenspraxis, die sich letztlich immer in irgend einer Art und Weise auf die weiterhin einzige allen Muslimen gemeinsame Basis von Qur’an und Sunna stützt.

Der innerwissenschaftliche Diskurs bleibt jedoch selten im Elfenbeinturm gefangen. Seit 2004 europaweite Kopftuchdebatten für Unruhe sorgen, interessieren sich auf einmal auch Politiker für alles Islamische, das sich öffentlich manifestiert. Ihnen passt das neoorientalistische Paradigma eines kulturell determinierten, äusserst diversen Islams sehr gut in die Agenda. Ist es einmal gelungen, islamische Kultushandlungen als nicht ursprünglich religiös-normativ, sondern lediglich kulturell-traditional bedingt zu konstruieren und die Gesellschaft auch noch davon zu überzeugen, so kann man sich aus der selbstauferlegten, beschränkenden Wirkung der Religions- und Kultusfreiheit lösen und die Forderung z.B eines Hijab-Verbots unter dem nunmehr als gültig anerkannten Vorwand kultureller Anpassung erheben. Oder anders ausgedrückt, könnte in der öffentlichen Meinungsfindung in Zukunft bei der Beurteilung eines neuen Gesetzes hinsichtlich seiner Verträglichkeit mit Religions- und Kultusfreiheit der Blick in die Normativität ganz ausgespart und stattdessen die Lebenspraxis der Muslime als Massstab verwendet werden.

Wo dies hinführen könnte, sehen wir nun schon bei der Niqab-Debatte. Kein Mensch bemüht sich darum, die Faktenlage der islamischen Normativität, insb. der klassischen Lehrmeinungen islamischer Rechtsschulen zu erwägen, obwohl sie in den Institutsbibliotheken der Islamwissenschaft kaum je vergriffen, jederzeit einsatzbereit mit einem feinen Staubfilm überzogen herumlägen. Jacqueline Fehr, möglicherweise bald neue Bundesrätin, verstieg sich in Gegenwart von Nora Illi an einem Podium in Zürich unlängst in die Behauptung, dass ihre  Form der religiösen Praxis (Tragen eines Gesichtsschleiers) «sektenhaft und keinesfalls repräsentativ» sei. Repräsentativ in Bezug auf was? Die aktuelle Lebenspraxis der Mehrheit!

Diese neue Diskursform, das kulturell Dominierende zur Norm zu erheben, schafft gute Voraussetzungen, dass der Islam zukünftig verstärkt durch die nicht-muslimische und vor allem nicht-kompetente Politik definiert wird. Die Normativität wird dabei in den Bereich des Irrelevanten abgedrängt, was die Popularität des Gegenstandes fördert und den Zugang zur Debatte auch jenen öffnet, die in ihrer Lebzeit noch nie einen Qur’an in den Händen hielten.

Alle Muslime, nicht nur praktizierende, sollten dieser Tendenz durch verstärktes Beharren auf dem einzig legitimen Massstab, nämlich der islamischen Normativität, entgegentreten. Kein Muslim sollte sich eine politisch verfügte Fremddefinition des Islamischen gefallen lassen. Schliesslich masst sich hierzulande der notorische Falschparker auch nicht an, das Strassenverkehrsgesetz für hinfällig zu erklären, nur weil viele sich nicht konsequent an die vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeiten halten.

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Veröffentlicht am: 31. Juli 2010
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