Schnell war der Tages-Anzeiger im Urteil. Kristallnacht, Nazismus, Judenvernichtung sind die Schlagworte, bei denen journalistische Exaktheit angesichts der geltenden Tabus nichts mehr gilt. Doch in diesem Fall hat man «falsch interpretiert». Müllers Tiraden galten dem Islam.
Von Abdel Azziz Qaasim Illi
Gross war die Aufregung im vergangenen Juni, als Alexander Müller, ein ehemaliger Stadtzürcher SVP-Schulpfleger, laut über die Möglichkeit einer neuen Kristallnacht, diesmal allerdings gegen Muslime nachdachte. Sein Tweet: «Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristallnacht… diesmal für Moscheen», löste einen heftigen «Shitstorm» und eine noch heftigere mediale Reaktion aus. Müller war innert Stunden zur öffentlichen Unperson erklärt worden; Schulpflege, Arbeitgeber, ja sogar die SVP sie alle wollten auf einen Schlag nichts mehr mit dem nunmehr lapidar als «Kristallnacht-Müller» abgestempelten Zürcher zu tun haben.
Müller selbst trat kurz danach sichtlich zerknirscht vor die Medien und entschuldigte sich bei all jenen, deren Gefühle er mit seinem Tweet verletzt habe. Danach wurde es ruhig um den Fall. Ein paar weit weniger spektakuläre, in der Art jedoch ähnliche Fälle von SVPlern, die sich den Ansprüchen des öffentlichen Diskurses nicht unterzuordnen vermochten, folgten zwar seither und provozierten eine eher kurzlebige und oberflächliche Diskussion über extreme Weltanschauungen in den Reihen der Volkspartei.
Am vergangenen Donnerstag nun kam die grosse Überraschung. Der Tages-Anzeiger, dessen Onlinesparte die mediale Lawine gegen Müller damals ins Rollen gebracht hatte, krebst auf höchstmöglichem Niveau zurück. Der Chefredaktor der Druckausgabe Res Strehle persönlich führte mit Müller ein zweiseitiges Rehabilitierungsinterview und erklärt noch in einer Kolumne, dass man Müllers Kristallnacht-Tirade falsch interpretiert habe: «Der TA-Beitrag interpretierte Müllers Tweet als Forderung nach einer neuen Kristallnacht. Diese Interpretation ging zu weit.» Und weiter: «Für den «Tages-Anzeiger» sind die Konsequenzen, die Alexander Müller wegen seines Tweets zu tragen hat, ungerechtfertigt.»
Strehle räumte Müller auf zwei Seiten in einem beispiellosen Bussgang Raum ein, sich für seine Kristallnacht-Warnung gegen Moscheen zu rechtfertigen. Diese Chance wusste Müller, der nun im Zuge seiner sechsmonatigen Arbeitslosigkeit reichlich Zeit hatte, sich als Amateurhistoriker über die Kooperation des palästinensischen Muftis mit den Nazis zu informieren, zu nutzen. Schliesslich scheint auch Strehle davon überzeugt zu sein, dass Müllers Kristallnacht-Tirade gar keine Drohung, sondern vielmehr eine gutgemeinte Warnung gewesen sei. Eine Warnung nämlich an die, wie Müller meint, laxe Justiz, die nicht entschieden genug gegen «radikale Islamisten» vorginge und damit letztlich den Volkszorn zum überkochen bringen könnte. Als Kronzeuge für seine These der laxen Justiz dient ihm Aziz Osmanoglu, der im letzten Mai vom Basler Appellationsgericht zweitinstanzlich vom Vorwurf öffentlich zu Gewalt aufgerufen zu haben, freigesprochen wurde. Geschickt lenkte Müller die Aufmerksamkeit der Leser von jeder Möglichkeit weg, seine Kristallnacht-Rhetorik mit antisemitischen Ideen in Verbindung zu bringen und ging stattdessen zum eigentlichen Angriff gegen den «radikalen Islamismus» über. Seine Nachforschungen hätten nämlich ergeben, eifert Müller, dass sich die «radikalen Islamisten» mit den Nazis ausgesprochen gut verstanden hätten und leitet daraus mit Referenz auf den palästinensischen Mufti eine eigentliche Affinität zwischen «radikalem Islamismus» und Nazismus ab. «Für mich ist der extreme Islamismus daher mit dem Faschismus der Nazis vergleichbar. Darauf wollte ich mit meinem Tweet auf pointierte Weise hinweisen.» Er der «Menschenrechtler» und «Freiheitskämpfer», wie es auf seinem weiterhin aktiven Twitter-Profil heisst, habe es «natürlich nur auf diese Extremisten» abgesehen, «die für sich das Recht beanspruchen, Frauen zu schlagen», sowie auf den «radikalen Islamismus und die damit verbundenen Gefahren».
«Nachvollziehbar», findet auch Chefredaktor Strehle und verwirft die einstige Anklage seiner Kollegin Michèle Binswanger von der Online-Redaktion als bedauerliche Fehlinterpretation.
Man braucht keine prophetischen Fähigkeiten, um abzuschätzen, wie die Sache ausgegangen wäre, hätte sich Müllers «Rhetorik» nicht auf Muslime, sondern z.B. auf Juden bezogen. Der Fall dient als Indikator für das zunehmend belastete Verhältnis zwischen der Schweizer Gesellschaft und dem Islam. Noch vor Jahren wäre ein Chefredaktor aus dem linken Lager kaum bereit gewesen, einem Kristallnacht-Tweeter die Hand der Versöhnung zu reichen – zu eindeutig die diskursive Grenzüberschreitung, zu unklar die erst a posteriori konstruierte Festlegung auf den «radikalen Islamismus».
Heute jedoch scheint das Unmögliche möglich geworden. Dem auch auf Kundenbefindlichkeiten achtenden Tages-Anzeiger schien der Zeitpunkt günstig, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen weiss man in den Zürcher Redaktionsräumen sehr wohl Bescheid, über die weit verbreitete Islamophobie in der Gesellschaft – dazu genügt ein flüchtiger Blick in die Online-Kommentare der hauseigenen Berichterstattung zu Themen, die den Islam betreffen. Andererseits ist man sich den qualitativen Mängeln des Online-Journalismus bewusst. Gut möglich, dass im vorliegenden Fall unsauber und überstürzt berichtet wurde – wie dies oft der Fall ist, wenn Presseschaffende zu ideologischen Überzeugungstätern werden und ihre Arbeit über ihre eigentliche Eigenschaft eines Broterwerbs erheben und meinen, im Dienste der gesellschaftlichen Wahrheit stehend, scheinbar inopportune Meinungen bodigen zu müssen.
Der Fall Müller lieferte der Druckredaktion offenbar die geeignete Vorlage, um das seltene Eingeständnis journalistischer Mängel in der Onlineausgabe gegenüber ihrer wohl mehrheitlich «islamkritischen» Leserschaft mit dem beispiellosen Versuch der Rehabilitierung eines «Islamkritikers» zu verbinden. Mit Kritik an der redaktionellen Selbstkritik war angesichts der «Fehlinterpretation» gar nicht mehr zu rechnen. Weite Teile der Leserschaft konnten den medialen Aufschrei ohnehin nie ganz nachvollziehen, sie verstanden Müllers Phobie trotz Überschreitung der Grenzen des diskursiv Sagbaren.
Was Müller selbst betrifft, so gibt er an neben Bewerbungen auch ein Buch zu schreiben. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass er die Steilvorlage des Tages-Anzeigers für eine berufliche Umorientierung vom «Kristallnacht-Tweeter» hin zum etablierten «Islamkritiker» im Stile eines Henryk M. Broders zu nutzen verstehen wird, der ideengeschichtliche Werdegang der gesellschaftlich-diskursiven Stabilisierung der Islamophobie von tabu zu «nachvollziehbar» lässt sich hingegen am vorliegenden Fall ontogenetisch nachzeichnen.