In Europa werden Grundrechte im Eiltempo in Frage gestellt. Den Islam zu verbieten – das geht nicht so einfach. Minarette, Niqâbs und Kopftücher aber schon. Während sich die Schlinge um das islamische Leben auch in der Schweiz immer enger zuzieht, bleibt der Protest unter den Muslimen aus. So kann es nicht weitergehen!
Von Abdel Azziz Qaasim Illi | @qaasimilli folgen |
Ist es eine Art Schockstarre, die die Schweizer Muslime kollektiv befällt oder einfach Gleichgültigkeit? Es heisst doch immer, etwas über 50’000 Muslime in der Schweiz würden den Islam orthodox praktizieren. Tatsächlich? Davon ist ausserhalb der Freitagspredigt nicht viel zu sehen, sofern man mir zustimmt, dass sich islamische Glaubenspraxis nicht auf das Freitagsgebet, Kleidervorschriften oder Frömmigkeit beschränken lässt. Doch diese Diskussion lassen wir nun mal aussen vor und kommen zum eigentlichen Thema.
Es ist wahr, dass die Schweiz ein schönes, wohlhabendes und sicheres Land ist. Als gebürtiger Schweizer weiss ich die Vorzüge dieses Landes sehr zu schätzen. Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass seit gut zehn Jahren Bestrebungen im Gange sind, Muslimen das Leben zu erschweren. 2009 krachte es erstmals, als das Stimmvolk die Minarett-Initiative mit 57.5% aller Stimmen klar angenommen hatte. Unterdessen machte der politische Druck aber nicht vor den Minaretten halt, sondern entwickelte sich rapide zu einer islamophoben Wertedebatte, bei der es im Übrigen noch gar nicht um den Aspekt der inneren Sicherheit geht. Dieser kommt nun sukzessive noch hinzu.
Eins müssen wir uns jetzt vergegenwärtigen: Der SVP ging es von Anfang an nie darum, ein objektiv fassbares Problem politisch zu lösen. Mit einem Minarett-Verbot erreicht man ja weder einen Rückgang bei der Einwanderung, noch erhöht sich die innere Sicherheit. Zudem gab es nie irgendwelche Probleme mit der muslimischen Minderheit in der Schweiz. War das Ganze also um sonst? Keinesfalls! Der SVP ging es um zwei Dinge: Einerseits wusste sie um die schwelende Islamophobie in der Gesellschaft und erhoffte sich mit solch einem Prestigeprojekt, sich als einzige Partei in Position zu bringen, die der vermeintlichen Islamisierung entgegentritt. Andererseits lancierte sie damit eine neue kulturelle Demarkierung. Muslime sollten und sollen auf den Rang bestenfalls tolerierter, jedoch klar untergeordneter Gäste degradiert werden. Minarette fungieren in diesem Weltbild als Machtsymbole, die auf keinen Fall den öffentlichen Raum zieren dürfen.
Schauen wir uns die weitere Entwicklung an, stellen wir fest, dass der Vorstoss viel erfolgreicher war, als bisweilen vermutet. Nicht nur, dass der Bau von Minaretten nun per Verfassungsartikel verboten ist – was mittlerweile fast schon den Rang eines helvetischen Grundwerts erklommen hat – sondern auch auf der mentalen Ebene: Was vor der Abstimmung als tabu galt, ist heute salonfähig. Der Islam darf, ja soll kritisiert und zerpflückt werden. Wem das nötige intellektuelle Rüstzeug dazu fehlt, dem stellen heute auch gestandene Tageszeitungen wie die NZZ entsprechende Stereotypen zur Verfügung. Nachplappern reicht, um mit dem Strom zu schwimmen. Letzte Verdachtsmomente, Islam-Kritik könnte einer chauvinistischen oder sonst einer inopportunen Grundhaltung entspringen, werden kategorisch durch die kontinuierliche Aktualisierung islamophober Akteure mit muslimischem, feministischem oder linkem Hintergrund ausgeräumt. Dass dabei zuweilen auch sonst eher dogmatisch-ideologische Gräben mal auf die Schnelle überwunden werden, stört kaum jemanden, zeigt aber wie akut die Phobie gegenüber dem Islam heute ist. So führt der ehemalige JSVP-Präsident Anian Liebrand in Ulrich Schlüers (SVP) «Schweizerzeit» in einem Kommentar zum Niqâb-Verbot seine politisch und ideologischen Antagonistinnen wie etwa die Schwarzer-Feministin Julian Onken als Kronzeugen auf.
Unterdessen hat der Kanton Tessin das vom Stimmvolk mit 66.2% Ja-Stimmen angenommene Niqâb-Verbot in Kraft gesetzt und angekündigt, bei Wiederhandlung Bussen zwischen CHF 100 und 10’000 zu verhängen. Walter Wobmann und sein Egerkinger Komitee sammeln indes fleissig Unterschriften für die Einreichung einer eidgenössischen Volksinitiative mit dem selben Ziel allerdings bezogen auf die ganze Schweiz. Ein Dammbruch bei den Kopftuchverboten in Ostschweizer Schulen und eine Ausbreitung in andere Kantone konnte unlängst nur dank dem entschiedenen Widerstand der betroffenen Schülerin in Zusammenarbeit mit dem Islamischen Zentralrat abgewendet werden. Bereits arbeitet die SVP in mehreren Kantonen daran, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, ein entsprechendes Verbot dennoch am Bundesgericht vorbei durchzudrücken.
Dies sind nur die ganz gross debattierten und konkret umgesetzten Angriffe auf die Religionsfreiheit der Muslime in der Schweiz. Kaum vergeht eine Woche, in der nicht irgend ein neuer Fall, ein neues Thema, ein neuer Wertekonflikt in den Medien aufgekocht wird. Die kurze aber heftige Debatte um die Knabenbeschneidung gen Ende 2012 hat gezeigt, welches Potential die angestaute Islamophobie in unserer Gesellschaft entfalten kann. Wer sich nicht so weit zurück erinnern mag, der denke an die unfassbare Intensität mit der zuletzt über den verweigerten Handschlag zweier Baselbieter Schüler diskutiert wurde.
Neu wird die in ihrem Ursprung kulturell motivierte Debatte auch noch von einem an Fahrt gewinnenden Sicherheitsdiskurs überlagert. Zwar ist die Lage in der Schweiz nicht mit jener in Frankreich oder Belgien zu vergleichen, dennoch wird auch hierzulande die Gefahr durch IS-Anschläge gefürchtet. Profiling dürfte bald kein Schimpfwort mehr sein, sondern – wie die Erfahrungen der letzten Monaten etwa an Schweizer Flughäfen zeigt – eine gängige Praxis. Die Perspektive für eine Entspannung der Sicherheitslage in Frankreich erscheint düster. Mit einer weiteren Eskalation muss nicht zuletzt aufgrund der rigiden und zuweilen dummen Politik der «Grande Nation» gerechnet werden. Sollte der FN weiter an politischem Boden gewinnen, könnte gar eine Gewalt-Repressions-Spirale in Gang gesetzt werden, deren Ausgang schwer abzuschätzen wäre. Vor diesem Hintergrund ist auch in der Schweiz mittel- und langfristig mit einem weiteren Anschwellen der Islamophobie zu rechnen.
Muslime und die Schweiz
Anders als die Franzosen haben die Schweizer bisher meistens den Weg des Ausgleichs dem der Konfrontation vorgezogen. Doch dazu kommt es erst, wenn Muslime als Verhandlungspartner respektiert werden. Gerade in der Schweiz haben wir eine qualitativ und quantitativ viel günstigere Situation als etwa in Frankreich. Einerseits sind wir nicht in internationale Konflikte verwickelt, was die Beziehung zu den Muslimen als loyale Schweizer Bürger, Nachbarn und Mitarbeiter nicht zusätzlich belastet. Dies wäre um einiges komplizierter, würden Schweizer FA-18 Flugzeuge Einsätze in Afghanistan, Syrien oder dem Irak fliegen.
Der unnötige Feldzug der SVP einerseits und die Passivität der Muslime andererseits sind aber geeignet, die günstigere Situation in unserem Land auf Dauer zu belasten. Die spür- und messbare Zunahme der Islamophobie drängt Muslime immer stärker an den Rand der Gesellschaft und verbaut in einigen Fällen die Hoffnung hier ein gut situiertes Leben führen zu können. Es braucht nicht erst einen besonders qualifizierten «Hassprediger», um negative Gefühle gegen eine Gesellschaft zu wecken, die einen aufgrund des Glaubens strukturell degradiert. Dem Unbehagen gegenüber diesem Zustand können Muslime keinesfalls durch Flucht aus der Verantwortung entrinnen. Solange jeder nur für sich selbst schaut und auf seinen persönlichen Vorteil bedacht, den Kopf in den Sand steckt, wird sich nichts ändern, vielmehr wird er oder sie früher oder später von der Realität eingeholt werden.
Auf Einsicht der SVP und anderer islamophoben Kreise zu warten, ist zudem kein Lösungsansatz. Entsprechend müssen wir uns überlegen, wie wir als Muslime der Gesellschaft als potenter und entschiedener Verhandlungspartner gegenübertreten können, einerseits um unsere Rechte zu verteidigen und andererseits um den IS-Anhängern jeden Vorwand zu nehmen, mit Gewalt gegen die Islamophobie zu reagieren. Dazu braucht es aber zunächst einmal einen Willen – einen Willen, den man in der Gesellschaft spürt und versteht. Es braucht Männer und Frauen, die bereit sind, zum Mittel des zivilen Ungehorsams zu greifen, um die Grundrechte, welche hierzulande auch für Muslime gelten sollten, zu verteidigen. Ich wünsche mir für dieses Land Muslime, die bereit sind, in den politischen Ring zu steigen, sich nicht zu schön sind, einen gesellschaftlichen Anerkennungskampf wie einst die Frauen oder Schwarzen zu führen, sich das oben genannte Verhandlungsmandat, ja den Respekt der Gesellschaft durch zivilen Widerstand gegen Unrecht und Diskriminierung erarbeiten und verdienen. Von Nichts kommt nichts. Wer bei jeder Forderung sofort in Deckung geht und sich für den Islam entschuldigt, erntet keinen Respekt, sondern Hohn und Verachtung und öffnet Tür und Tor für die nächste Forderung. Wer sich für die Sache der Muslime nicht verantwortlich fühlt, handelt egoistisch oder feige – auf jeden Fall gegen den Geist der Umma und sollte seine Überzeugungen dringend reflektieren. Wer glaubt in der islamischen Normativität eine Grundlage für Quietismus und Bequemlichkeit zu finden, der soll die Sîra des Propheten (saws) und der Sahâba (ra) noch einmal konsultieren.
Auf zum Niqâb-Spaziergang im Tessin
Also worauf warten unsere Schwestern noch? Die Medien wären begeistert, würdet ihr eure Sommerferien oder das Wochenende im Tessin verbringen, am Lago Maggiore entlang flanieren, mit den Kindern auf den Spielplätzen Picknicken – mit Niqâb versteht sich. Dann müssten sie nicht mehr den Selbstbeweihräucherungen der Tessiner Politik die Bühne überlassen, welche sich nun in den höchsten Tönen rühmen, muslimischen Frauen ein Stück Freiheit vermittelt zu haben.
Sollte euch eine Patrouille anhalten, dann erklärt ihnen höflich aber bestimmt, dass es hier nicht einfach um ein falsch geparktes Auto geht, sondern um die islamophob motivierte und unverhältnismässige Einschränkung von Grundrechten. Ein Gesetz darf nicht den legalen Rahmen eines eigentlichen Unrechts bilden. Es muss dem öffentlichen Wohl dienen und verhältnismässig sein. In diesem Fall ist das Gesetz eine unterdrückerische Massnahme, um orthodoxen muslimischen Frauen die freie und öffentliche Religionsausübung zu verbieten. Darum und um nichts anderes ging es den rechts-konservativen Initianten. Ob das Tessiner Niqâb-Verbot überhaupt mit übergeordnetem Verfassungsrecht kompatibel ist, müssen die Bundesrichter erst noch entscheiden. In der Zwischenzeit ist es angezeigt, die Wirkung des Gesetzes durch bewusste Widerhandlung zu neutralisieren. Anders als bei den meisten Aktionen zivilen Ungehorsams riskiert ihr noch nicht einmal Konsequenzen. Die Busse kann und soll angefochten werden und sollte auch das Bundesgericht einst der Meinung sein, dass das Gesetz mit übergeordnetem Recht vereinbar sei, wird Rachid Nekkaz wie angekündigt in Zusammenarbeit mit dem IZRS die Bussen bezahlen. Worauf also noch warten?