Bern, 15.12.2010
In einer Zeitung war kürzlich zu lesen: «Geschichten um Recht und Sonderrecht für Muslime sorgen immer wieder für Schlagzeilen». In einem weiteren journalistisch angehauchten Aufsatz hiess es: «Muslime versuchen mit juristischen Spitzfindigkeiten die hiesige Rechtsordnung zu untergraben». Was für Forderungen? Was für juristische Spitzfindigkeiten? Oder verteidigen Muslime einfach das Schweizer Recht, das andere versuchen dem Stimmvolk wegzunehmen?
Von Hajj Oscar A.M. Bergamin
Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) soll «Meinungen vertreten und Forderungen stellen, die mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar sind», so die Auffassung in verschiedenen Schweizer Parteizentralen. Da der IZRS ein ausgezeichnetes Netzwerk zu allen politischen Parteien hat, kommen uns solche Aussagen früher oder später immer zu Ohren. So, und was bitte sind das für Meinungen und Forderungen? Wo wurden diese publiziert oder kundgetan? Der IZRS ist es bereits gewohnt mit Adjektiven und Prädikaten wie «extremistisch», «fanatisch» und «radikal» stigmatisiert zu werden – um mal ein echt christliches Verb zu gebrauchen und das die abstrusesten Dinge zusammengedichtet werden, doch irgendwann ist Schluss. Nicht die Muslime in der Schweiz untergraben den Rechtsstaat. Es sind diejenigen die sich das Wort «Freiheit» auf die Fahne geschrieben haben.
Seit Monaten ist in der Schweiz die Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten, insbesondere gegen Musliminnen und Muslimen befeuert worden. Rechtspopulisten aller Couleur haben Vorurteile bedient und Ängste von Menschen für ihren angeblichen Kampf gegen die «schleichende Islamisierung» geschürt. Die Minarett-Initiative und die Ausschaffungsinitiative sind der lebende Beweis dafür. Derzeit wird eine «Integrationsdebatte» konstruiert, an der nichts mehr richtig ist. Es geht nur noch um vermeintlich «nützliche» Migranten und «unnütze» Migranten. Dabei werden Muslime nicht nur automatisch und biologistisch-kulturell zu Letzteren stigmatisiert, sondern zum Beispiel in Deutschland im Zusammenhang mit den wirren Terrorwarnungen auch das Denunziantentum ihnen gegenüber gefördert. Die Gefahr für die Gesellschaft und eine Demokratie geht aber nicht von Muslimen aus, sondern von der Mitte der Gesellschaft. Und obwohl einige Muslime und Musliminnen täglich Ohrfeigen im wortwörtlichen Sinne kassieren müssen, glauben einige immer noch daran, man müsse mit netten Aktionen die Herzen der Schweizer Bevölkerung gewinnen. Es wird Zeit gegenzusteuern. Leere Worthülsen helfen nicht. Kaffeekränzchenen mit den Muslimen ohnehin gutgesinnten Bürgerinnen und Bürger an Tagen der offenen Moschee sind zwar nicht sinnlos, bringen aber auch nicht viel.
SVP hat recht: «Die politische Debatte zielt an der Sache vorbei»
Zum Jahrestag der Abstimmung, gelangte die SVP mit einem Manifest «Nein zur Islamisierung der Schweiz» an die Öffentlichkeit. Zuerst dacht ich «Hoppla, ein ‚Manifest‘, da kommt was!». Dennoch habe ich auf den zwei A4-Seiten nichts Neues gelesen. Die Partei wirft dem Bundesrat vor, er entziehe sich der Frage, welche Schlüsse aus dem Volksentscheid zu ziehen seien. Die politische Debatte in der Schweiz seit der Minarettabstimmung ziele an der Sache vorbei, bilanzierte das kleine Grüppchen von SVP-Exponenten. Abgesehen von den abstrusen Gedankenformulierungen hat das kleine Grüppchen mit diesem Satz im Grunde Recht, auch wenn die SVP das so vermutlich nicht gemeint hat. «Immer wieder sorgen Geschichten um Recht und Sonderrecht für Muslime kurzzeitig für Schlagzeilen. Doch eine grundsätzliche Auseinandersetzung über das Zusammenleben, über gegenseitige Erwartungen und über Unmut, Ängste und Ressentiments in der Bevölkerung findet nicht statt», schreibt Verena Vonarburg im «Bund». Sie schliesst mit dem Satz: «Bis Ende Jahr sollen die Gespräche mit dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) wenigstens ein konkretes Resultat zeitigen: Die Muslime und der Bund wollen sich auf Grundsätze des Rechtsstaates einigen». Wie bitte? Irgendetwas zielt da tatsächlich an der Sache vorbei. Die Muslime in der Schweiz sind noch nie gegen den Rechtsstaat aufgetreten und warum sollten sie das in Zukunft tun? Nur weil irgendeine Minderheit von Populisten behauptet, der Islam sei mit dem hiesigen Wertesystem nicht zu vereinen, heisst das noch lange nicht, dass dies auch so ist. Doch leider werden solche Argumente immer überhört.
Muslime stellen weder den Rechtsstaat in Frage, noch stört sie der Weihnachtsbaum im öffentlichen Raum
«Die Muslime und der Bund wollen sich auf Grundsätze des Rechtsstaates einigen». Welche Muslime und wieso sollen Schweizer Muslime sich auf den Grundsätzen des Rechtstaates einigen, wenn diese von den Muslimen bis anhin noch nie in Frage gestellt worden sind? Es sind immer die anderen, die bei jeder Gelegenheit eine Verfassungsänderung herbeiführen wollen, die dummerweise auch noch dieser gleichen Verfassung widerspricht. Die Muslime, allen voran der IZRS haben sich immer zum Rechtsstaat bekannt. Darum hat sich der IZRS dazu entschlossen, den eben in der Verfassung verankerte Art. 72 Abs. 3 («Der Bau von Minarette ist verboten») mittels einer Volksinitiative wieder aus der Verfassung zu entfernen und zum alten Zustand zurück zu kehren: Zur bewährten Schweizer Rechtsordnung, die die Diskriminierung von einzelnen religiösen oder ethnischen Gruppen verbietet. Welche Muslime haben in der Schweiz die Abschaffung des «Samichlaus» gefordert? Niemand! Auch gegen den Weihnachtsbaum oder das Kruzifix im Schulzimmer sind hierzulande noch nie muslimische Stimmen laut geworden. Das waren immer andere, die den Muslimen unterstellen wollen, sie seien gegen diese Symbole. Nein, gegen Adventsbräuche oder Weihnachtsbäume sind die Muslime nicht, solange man sie nicht zwingt, eine geschmückte Tanne ins eigene Wohnzimmer zu stellen. Muslime – und vor allem Muslime in der Schweiz – können sehr gut mit einer multireligiösen Gesellschaft umgehen. Ein Blick über die Landesgrenze nach Sarajevo zeigt, dass dort die gleiche Festbeleuchtung zuerst für das muslimische Bajram-Fest, anschliessend für das westchristliche Weihnachtsfest und das anschliessende orthodox-christliche Weihnachtsfest und die entsprechenden Neujahrsfeiern verwendet wird.
Das Recht des Stärkeren?
Als ich kürzlich von Chur nach Bern fuhr, um an der nach eidgenössischem Recht einberufenen Ordentlichen Generalversammlung des IZRS teilzunehmen, bin ich auf der Autobahn fast verzweifelt. Auf Schweizer Autobahnen überholen einige Automobilisten dort wo Tempo 120 erlaubt ist locker mit 99 km/h ein Fahrzeug das mit 96 km/h unterwegs ist. Das ist gang und gebe. Unsere nördliche Nachbarn, die Deutschen, belächeln uns gerne darum. Natürlich hätte ich mit Vollgas auf der rechten Spur überholen können. Aber wäre ich dann schneller am Ziel angekommen? Wer auf einer Autobahn rechts überholt, kann wegen einer groben Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG (Strassenverkehrsgesetz) zur Verantwortung gezogen werden. Dieses Vergehen wird mit Busse oder Gefängnis geahndet und führt zu einem Führerausweisentzug (Bundesgerichtsentscheid 126 IV 192). Das will jemand aus der SVP, nämlich der Schaffhauser Nationalrat Thomas Hurter ändern. Er argumentiert mit einer Verkehrsentlastung auf dem staugeplagten Autobahnnetz, würde man Rechtsüberholen zulassen. Auf die Frage des Tages von «Blick»-Online», «Soll Rechtsüberholen erlaubt werden?» befürworteten dies fast 55 Prozent der «Blick»-Leserschaft. Nun muss man sich das daraus entstehende Chaos mal vorstellen. Nicht mal in Italien wird heute noch rechts überholt. Aber diese Idee ist typisch für die SVP-Politik. «Die Meteorologie vermag die Fahrweise auf unseren Nationalstrassen zu beeinflussen. Wie sollte es da bei der politischen Grosswetterlage in unserem Land anders sein?» Kommentierte Christoph Pochon vom «Bieler Tagblatt». Dahinter stecke die Absicht der SVP, den Automobilisten zu suggerieren, dass man auf einer rechten Spur am schnellsten ans Ziel komme und sie wollen so zusätzliche Wählerschaft gewinnen. Dem Recht des Stärkeren soll zum Durchbruch verholfen werden, doch das steht im krassen Widerspruch zur Bundesverfassung.
Wir wollen Recht, Schweizer Recht!
In der eidgenössischen Bundesverfassung wird dies in der Präambel nach dem «invocatio dei» (Im Namen Gottes des Allmächtigen) in der «narratio» (Erzählung) konkretisiert:
«Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung». DOPPELPUNKT!
Eine «exklusive» und eine «inklusive» Auslegung der Anrufung Gottes in der Bundesverfassung
Verstanden? «In Verantwortung gegenüber der Schöpfung» und «…in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben…» Einige Eidgenossen haben das offenbar noch nicht begriffen. Aber um kurz bei der Präambel zu bleiben: Ein Bettelbriefe verschickender Newsletter-Verfasser aus dem Kanton Zürich schrieb kürzlich: «Mit dem in der Präambel der Bundesverfassung festgehaltenen Gottesbezug gibt sich die Schweiz als abendländischer Staat auf christlichem Fundament zu erkennen. Wer sich in der Schweiz niederlassen will, hat dies zu respektieren». Haha! Falsch! Rechtsprofessoren in der Schweiz haben über die rechtliche Wirkung, praktische Bedeutung und theologische Interpretation der Präambel sowohl auf staatsrechtlicher als auch auf theologischer Seite keine einheitliche Auffassung. Es wird unterschieden zwischen einer «exklusiven» und einer «inklusiven» Auslegung der Präambel. Wurde der Anrufung Gottes in der Verfassung von 1848 sehr wohl noch christlich gedeutet – obwohl es schon damals an konfessioneller Einheit mangelte und der Gottesbegriff nicht auf ein bestimmtes christliches Bekenntnis eingeengt war, so ist dies seit der Annahme der Verfassung von 1999 anders. Rechtsexperten betonen eine «inklusive Auslegung der Präambel», das heisst der theologische Gehalt wird über das christliche Gottesbild hinausgehend verstanden. «Mit dieser Sichtweise kann die Präambel auch für ein anderes Gottesverständnis – namentlich auch für ein islamisches offenstehen», heisst es im Werk «Muslime und Schweizerische Rechtsordnung» vom Freiburger Professor René Pahud de Mortanges. Das Buch «Muslime und Schweizerische Rechtsordnung» gibt auf viele Rechtsfragen eine Antwort, so dass es erstaunt, dass in den Medien und in der Öffentlichkeit immer wieder Fragen aufgeworfen werden, die schon lange beantwortet sind. Das arabische «Bismi Llahi» und das lateinische «in nomine Domini» im Bundesbrief von 1291 sind eigentlich das Gleiche.
Schweizer Recht ist unser Recht!
Alles was in der eidgenössischen Rechtsordnung geschrieben ist, hat für die Einwohner dieses Landes Gültigkeit. Der IZRS hat nie etwas anderes behauptet! Die Muslime in der Schweiz können sich auf das schweizerische Recht stützen, da dieses auch ihnen Gleichberechtigung garantieren sollte. Schweizer Recht ist unser Recht! Aber wehe wenn man davon Gebrauch macht! Dann versuchen einige populistische Elemente diese Rechte auszuhebeln. Wenn also Leute ins Visier der Verfassungsschützer geraten sollten, dann sind es diejenigen, die ständig darum bemüht sind, die Verfassung anzugreifen. Muslime haben das nie gemacht.