Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) hat das heutige Urteil des EGMR zugunsten Belgiens mit Verwunderung und Besorgnis zur Kenntnis genommen. Er stellt fest, dass die Tendenz zur Aushöhlung individueller Grundrechte anhält.
Kommuniqué 11072017 – 0148
Insbesondere die Argumentation, wonach ein Verbot des muslimischen Gesichtsschleiers für eine demokratische Gesellschaft notwendig sei, stösst auf grosse Verwunderung gefolgt von Besorgnis. Dem Dafürhalten des Gerichts nach, schränkt die islamisch motivierte Vollverschleierung Rechte Dritter ein, welche durch das vom belgischen Parlament 2011 beschlossene Verbot geschützt werden sollen.
Das Gericht beerdigt damit die jahrzehntelang geltende westlich-moderne Doktrin, wonach individuelle Freiheitsrechte zu schützen seien, soweit sie die Rechte Dritter nicht nachweislich einschränkten. In Ansätzen, bereits im Urteil zugunsten Frankreichs, setzt sich nun die Meinung durch, dass Dritte einen Anspruch auf „Gesichtzeigen“ geltend machen könnten. Es entsteht unzweifelhaft der Eindruck, dass das Gericht einer fordernden Mehrheit entgegenkommt, anstatt den betroffenen Individuen ihre Grundrechte auf Religionsfreiheit zuzugestehen.
Das Urteil kann etwas weitergedacht folgenschwere Konsequenzen für den zukünftigen Schutz individueller Freiheitsrechte mit sich bringen. Mit der gleichen Auslegeordnung könnten andere EGMR-Mitgliedstaaten auch auf den Geschmack kommen und vergleichbare Forderungen an ihre Minderheiten herantragen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, was Mehrheitsgesellschaften unter dem Schlagwort „Zusammenleben“ ihren Minderheiten alles abverlangen könnten. So wäre es denkbar, dass auch ein Kopftuch- oder Kippaverbot eines Tages als notwendig für den Fortbestand des gesellschaftlichen Friedens in der demokratischen Gesellschaft gehalten wird.
So war das mit den individuellen Grundrechten natürlich nicht gemeint. Früher war man sich einig, dass Dritte etwa die religiöse Praxis eines Individuums aushalten müssen, soweit diese sie in ihrer Freiheit nicht einschränkt. Zu behaupten, dass das blosse Tragen eines Niqâbs die Rechte Dritter einzuschränken vermag, ist höchst unplausibel.
Das Gericht entwickelt gerade seine eigene, dem einstigen Geiste von Toleranz und Minderheitenschutz zutiefst widersprechende Rechtsprechung. Fällt der Minderheitenschutz einer fordernden Mehrheit zum Opfer, stehen wir bald wieder am Anfang einer neuen Grund(un)rechtsordnung.
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