Das Niqab-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bricht in radikaler Weise mit der jüngsten europäischen Rechtstradition. In einem wohl verhängnisvollen Schachzug spielt es gesellschaftliche Werte gegen westlich-moderne Menschenrechte aus. Den Niqab wird es damit kaum eindämmen, dafür möglicherweise die eigene Glaubwürdigkeit.
Von Abdel Azziz Qaasim Illi | @qaasimilli folgen |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stützt das 2010 von der französischen Nationalversammlung erlassene Niqab-Verbot. Die Nachricht wird im Westen mit gemischten Gefühlen rezipiert. Während in Sachen Niqab – oder noch etwas negativer ausgedrückt – der Burka die Meinungen unter Nicht-Muslimen weitestgehend gemacht sind, wandert nach Bekanntwerden der Urteilsbegründung ein bitterer Nachgeschmack den Gaumen herauf. Ein Verbot liesse sich doch auch bestens rechtfertigen, ohne in eine «Tyrannei des Wirs» zu verfallen, glaubt etwa die deutsche Tageszeitung «Die Welt». Tatsächlich müsste die Urteilsbegründung unter Verfechtern einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung blankes Entsetzen auslösen. Die von der französischen Regierung ins Feld geführten Argumente: öffentliche Sicherheit, Verteidigung der Geschlechtergleichheit und Wahrung der Menschenwürde erachtete das Gericht allesamt nicht als hinreichend begründet bzw. als ungeeignet, um ein gewichtiges Grundrecht einzuschränken.
Tatsächlich lässt sich die behauptete Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nur schwer beweisen. Einerseits fehlt es an empirischen Daten, die eine besondere Gefährdung z.B. in Gesellschaften mit erhöhtem Anteil an verschleierten Personen belegen würden. Ginge es tatsächlich um diesen präventiven Aspekt der öffentlichen Sicherheit, müssten andererseits konsequenterweise auch Motorradhelme, Fasnachtsmasken oder alle anderen gesichtsverhüllenden Utensilien wie Sonnenbrillen, Hygienemasken oder der Winterschal verboten werden.
Die Geschlechtergleichheit wird mit einem Niqab-Verbot eher zurückgedrängt als gefördert, richtet sich das Gesetz doch exklusiv gegen eine mögliche Art der Bekleidung bei der Frau. Dass Männer vom Gesetz betroffen sein könnten, ist derzeit in Ermangelung eines entsprechenden Bedürfnisses nicht absehbar.
Die Menschenwürde wäre allenfalls dann in Frage gekommen, wenn es tatsächlich darum gegangen wäre, Frauen aus einem Zwang zu befreien. Gerade im aktuell verhandelten Fall kann davon keine Rede sein. Die Klägerin, eine französische Universitätsabsolventin, kämpfte für ihr Recht, ihr Gesicht aus religiöser Überzeugung in der Öffentlichkeit nicht ohne Grund zeigen zu müssen.
Anstatt einem der vorgetragenen Argumente des offiziellen Frankreichs zu folgen, argumentierte das Gericht wider Erwarten ganz anders:
«Das Gericht konnte den Standpunkt nachvollziehen, demzufolge einzelne Bürger es ablehnen könnten, im öffentlichen Raum Praktiken oder Haltungen zu sehen, welche die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Beziehungen infrage stellen, die aufgrund eines bestehenden Konsens einen unverzichtbaren Bestandteil des Gemeinschaftslebens innerhalb dieser betreffenden Gesellschaft darstellen.»
Ob sich die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) der Tragweite ihres unanfechtbaren Urteils voll bewusst sind, ist ungewiss. 15 Richter stimmten für die Aufrechterhaltung des französischen Niqab-Verbots, zwei dagegen. Diesem hochqualifizierten Juristengremium aber Naivität oder Kurzsichtigkeit zu unterstellen, wäre gewagt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Entscheidung eine eingehende Abwägung und viele kontroverse Diskussionen vorausgegangen sein dürften. Dies aber wirft die Frage auf, ob man damit der sich immer stärker ausbreitenden Islamophobie eine Gelegenheit einräumen wollte, um auf Kosten einer kleinen Minderheit innerhalb der muslimischen Minderheit etwas vom angestauten Dampf abzulassen.
Werte gegen Menschenrechte
Welche Überlegungen auch immer die Richter zu dieser Begründung bewogen haben mögen, der Intoleranz einiger Bürger wird damit Vorrang über die Grundrechte in diesem Fall einer religiösen Minderheit eingeräumt.
Weil in der französischen Gesellschaft offensichtlich ein mehrheitlicher Konsens darüber herrscht, dass der Gesichtsschleier die aktuell gültigen Gesellschaftsnormen dahingehend verletze, als er einen unverzichtbaren Bestandteil des Gemeinschaftslebens in Frage stelle, darf der Staat nach Meinung der Richter einen entsprechenden Grundrechtseinschnitt auf Kosten der muslimischen Minderheit vornehmen.
Und genau hier liegt der furchterregende Bruch mit der bisher gültigen Annahme, dass ein Grundrecht nur dann eingeschränkt werden darf, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse – in der Praxis eine schon fast zwingende Notwendigkeit – dies erfordert. Dabei dachte man an objektive Gründe. So ist es beispielsweise auch für eine verschleierte Muslima völlig nachvollziehbar, dass sie bei der Passkontrolle ihr Gesicht dem diensthabenden Beamten zeigen muss. Auch war stets im Grundsatz unbestritten, dass ein Freiheitsrecht des einen, nicht die Freiheit des anderen beschränken darf.
Dass nun die obersten Richter Europas auch subjektives Empfinden als Grundlage für ein überwiegendes öffentliches Interesse anerkennen, ist ein radikaler Bruch mit der jüngsten europäischen Rechtstradition, vielleicht auch ein deutliches Zeichen der zunehmenden Verunsicherung. Gesellschaftliche Werte geraten mit westlich-modernen Menschenrechten in einen verhängnisvollen Widerstreit und erringen einen gewichtigen Etappensieg.
Nicht umsonst beeilten sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International das Urteil scharf zu kritisieren. Denn sie wissen, dass auf der gleichen Grundlage nicht nur der Gesichtsschleier, sondern praktisch jede öffentlich wahrnehmbare Praxis oder Haltung – sofern jene nicht in die Schnittmenge des Wertekonsens‘ einer Gesellschaft passt – staatlich eingeschränkt werden kann.
Wurde in der Vergangenheit beispielsweise in Osteuropa staatlich repressiv gegen Homosexuelle vorgegangen, so geschah dies oft auch unter der stillen Zustimmung einer gesellschaftlichen Mehrheit, die durch diese neue Lebensform ihre angestammten christlich-orthodoxen Werte einer Bedrohung ausgesetzt sahen. Dennoch konnte sich die homosexuelle Minderheit stets auf die Richter in Strassburg verlassen. Letztere fühlen sich in diesem Fall eher den westlich-modernen Menschenrechten verpflichtet als christlich-orthodoxen gesellschaftlichen Werten.
Das Niqab-Urteil baut jedoch just an dieser Stelle einen verfänglichen Widerspruch in die europäische Rechtstradition ein. Weshalb sollte eine christlich-orthodox geprägte Mehrheitsgesellschaft Homosexuellen im Lichte der jüngsten Urteilsbegründung zukünftig noch Rechte zugestehen, die offensichtlich dem bestehenden (schwulenfeindlichen) Konsens zuwiderlaufen? Warum soll eine als anstössig und sündhaft verstandene Lebensform, die zudem sowohl durch die Religion wie auch die Tradition begründet auf breite Ablehnung stösst, mehr Anspruch auf Toleranz haben als ein dünnes Stück Stoff über dem Gesicht einer gläubigen Muslima, wird man sich fragen müssen.
Erweitert man den Radius über die Jurisdiktion des EGMR hinaus und vergegenwärtigt man sich die europäische Taktik auf dem Spielfeld der internationalen Beziehungen, so muss man sich fragen, inwiefern insbesondere französische Politiker noch glaubwürdig mit westlich-modernen Menschenrechten gegenüber vermeintlichen Unrechtsregimen moralisches Übergewicht aufbauen können. Staaten, die sich einer Adaption solcher Menschenrechte bisher verweigerten, brauchen gar nicht mehr erst ihre Verweigerungshaltung zu begründen, sondern können sich direkt der Widersprüchlichkeit bedienen, die die das europäische Rechtsrepertoire nunmehr bereitstellt.
Jihad um Gerechtigkeit vorprogrammiert
Auf einer praktischen Ebene dürfte das nun nicht mehr weiter anfechtbare Niqab-Verbot in Frankreich kaum besser umsetzbar sein als bisher. Glaubt man dem «Tagesanzeiger», so belegt eine Studie sogar eine starke Zunahme der vollverschleierten Muslimas in der laizistischen Republik – möglichweise aus Protest gegen die Einschränkung. Selbst bei einer Ausweitung des Verbots in andere europäische Staaten bleibt die Frage nach dem Nutzen. Frauen, die sich aus tiefer religiöser Überzeugung verschleiern, werden dies wohl auch unter Androhung von Busse und Haft nicht unterlassen. Im Gegenteil, denn diese Art der Konfrontation liefert eine ausgezeichnete Gelegenheit, ausgestattet mit moralisch überlegenem Ethos in einen vielbeachteten Jihad um die verlorengegangene Gerechtigkeit einzutreten. Verlieren kann die gläubige Muslima diesen Jihad aus islamischer Perspektive gar nicht. Wird sie für ihre Standhaftigkeit bestraft, erlangt sie einen märtyrerähnlichen Status in der Gemeinschaft. Das Rechtsempfinden zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft driftet dabei bedrohlich auseinander – die typische Grundstruktur eines Glaubenskriegs.
Auch die Gesellschaft wähnt sich im Recht. Schliesslich kann sie sich auf den Buchstaben des Gesetzes stützen, der sich nunmehr noch der moralischen Absolution des obersten Gerichts Europas sicher sein darf. Als Verlierer kommen nur die westlich-modernen Menschenrechte in Frage. Das jüngste Niqab-Urteil stellt ihre Gültigkeit neuerdings auch innerhalb der europäischen Rechtsprechung radikal in Frage. Nicht auszuschliessen, dass die Richter in Strassburg damit die einst so gut gehütete Büchse der Pandora geöffnet und die Relativierung der westlich-modernen Menschenrechte endgültig eingeläutet haben.