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Die Zeiten waren schon besser für die Rebellen in Syrien. Die Würfel für Ost-Aleppo scheinen gefallen. Die Stadt wird sich einer Einnahme durch die SAA-Truppen nicht mehr aus eigener Kraft entziehen können. Wie es dazu kam und welche Chancen der Revolution noch verbleiben.

Eine Analyse von Abdel Azziz Qaasim Illi 


Es war am Donnerstagmorgen, 7. Juli 2016 als dem syrischen Regime ein entscheidender Coup geglückt war. Die SAA-Abteilung «Tiger Forces» stürmten nach tagelangen Kämpfen in der Gegend um Handarât die südlichen und westlichen Mahalla-Farmen und rückten damit in treffsichere Schussdistanz zur Castello-Strasse – dem einzigen Verbindungskorridor nach Ost-Aleppo. Seither gilt der von Rebellen kontrollierte Stadtteil mit einem kurzen Intermezzo als eingeschlossen. Die Situation ergab sich jedoch nicht als Überraschung. Schon Tage zuvor begannen russische Kampfjets die Castello-Strasse unter Beschuss zu nehmen. Dazu kamen die weniger präzisen aber dennoch gefährlichen Artillerieeinstellungen der SAA und besonders heimtückisch, wenn auch nicht neu, die Scharfschützen der YPG aus dem Stadtteil Sheikh Maqsûd. Wie konnte es so weit kommen?

Wer die katastrophale Lage in Aleppo verstehen will, muss etwas weiter zurückblicken. Doch wohin? Die Analysten streiten sich wie oft bei der Betrachtung von Konfliktverläufen um den exakten Zeitpunkt, an dem «die Wende» eingetreten sein soll. Spannender als eine ohnehin umstrittene «Wende» zu identifizieren, ist der Blick auf die Faktoren, die eine wie auch immer geartete «Wende» zugunsten des Regimes erst ermöglicht haben.

So viel steht fest: Bleibt ein taktisches Wunder aus, wird Ost-Aleppo in den kommenden Wochen unter Regimekontrolle fallen. Die Verteidigungslinien der Rebellen kollabieren seit Tagen in atemberaubendem Tempo. Gerüchte machen die Runde, dass es nun auch noch an Munition mangle, um einen geordneten Widerstand aufrechterhalten zu können. Ein Szenario wie in Homs, als Anfang Dezember 2015 die letzten Rebellen in Bussen unter Aufsicht der UNO die einstige «Hauptstadt der Revolution» in Richtung Idlib verliessen, wird auch für Aleppo von Stunde zu Stunde wahrscheinlicher.

Ist Aleppo erst einmal Geschichte, bleibt nicht mehr viel von der Revolution im Norden übrig, die einst ein kohärentes Gebiet von der irakischen Grenze nordöstlich von Deir e-Zour bis ans Mittelmeer (Kasab) mit Städten wie Raqqa, Tabaqa und grossen Teilen Aleppos kontrollierte. Aufgerieben zwischen vorrückenden Regime-Truppen mit ihren schiitischen Verbündeten, der russischen Luftwaffe, dem IS und der YPG gleicht das stetig schwindende Rebellengebiet heute einem komplizierten Flickenteppich, der Zeugnis von einem Konflikt gibt, der längst nicht mehr nur auf die Absetzung Bashar al-Asads hin ausgerichtet ist.

Der Regime-Durchbruch in Nord-Aleppo

Galt Asad im Sommer 2015 vielen Analysten als so gut wie besiegt, trumpfen seine Anhänger heute geradezu euphorisch mit dem Sprichwort «Totgesagte leben länger» auf. Tatsächlich durchlebte das Regime vor dem russischen Kriegseintritt im Oktober 2015 bange Momente, was den etablierten israelischen Experten für arabische Angelegenheiten Ehud Ya’ari Anfang Juni 2015 zur Prognose bewegte, Asad könnte innert kürzester Frist zu Fall kommen. Seine Einschätzung war nicht aus der Luft gegriffen, sondern stand unter dem Eindruck der im März durch das neue islamische Rebellenbündnis «Jaysh al-Fath» (JaF) eingenommen Provinzhauptstadt Idlib. Ya’ari wäre kein gestandener Analyst, hätte er diese Prognose nicht mit einer Einschränkung versehen. Demnach hätte nur ein direkter Kriegseintritt des Irans mit regulären gut trainierten Bodentruppen dem angeschlagenen Tyrannen aus der Schlinge helfen können. Die u.a. durch den Iran zur Verfügung gestellten schiitischen Milizen aus Afghanistan seien taktisch schwach und kaum in der Lage, den mittlerweile erfahrenen Rebellen das Wasser zu reichen.

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Stand Nord-Aleppo vor Durchbruch am 30.1.2016

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Stand Nord-Aleppo nach Durchbruch am 03.02.2016

Der Israeli machte die Rechnung allerdings ohne Putin. Jener griff zur allgemeinen Überraschung ab Oktober 2015 unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen, zunächst etwas unbeholfen, dann aber immer zielgerichteter und brutaler ins Kriegsgeschehen ein. Mit der Deckung der russischen Luftwaffe wagte das Regime am 1. Februar 2016 eine unerwartete Offensive. Unter 320 Luftschlägen brachen SAA Truppen bei Bâsh Kuy aus und stürmten innert nur zwei Tagen nordwestlich quer durch den Rebellenkorridor nach Nubl und Zahrâ‘. Damit hebten sie nicht nur die jahrelange Belagerung der beiden schiitischen Orte auf, sondern schnitten zugleich noch das verbliebene Rebellenterritorium im nördlichen Aleppo von Südaleppo und Idlib ab. Wenn es sowas, wie einen taktisch entscheidenden Moment in der nördlichen syrischen Revolution gab, dann musste dies einer sein. In der Folge konnte das Regime zwar anders als die YPG ihr Territorium im Norden nur noch mässig zu Lasten der Rebellen ausbauen. Dafür konnte es weitere ungleich kleinere dafür stetige Fortschritte gegen Ost-Aleppo und sein Umland verbuchen, bis zu jenem verhängnisvollen Moment, als es wie oben beschrieben am 7. Juli in treffsichere Reichweite zur Castello-Strasse Position bezog.

Mangelnde Einheit zwischen den Faktionen

Es stellt sich nun natürlich die Frage, ob das russische Engagement für sich genommen reichen würde, um die Fortschritte des Regimes in Nord-Aleppo zu erklären. Die Antwort darauf liefern die Rebellen gleich selbst. Gegenüber der in London ansässigen al-Quds al-‘Arabî sagten am vergangenen Dienstag ‘Abd ar-Razâq al-Mahdî (JaF), al-Fârûq (Ahrâr ash-Shâm) und ‘Atiyyat Allah (Jabhat Ansâr ad-Dîn) – alle drei hochrangige Rebellenführer – übereinstimmend aus, dass der grösste Schaden nicht durch die Russen, sondern durch die fehlende Einheit der Rebellen entstanden sei. ‘Abd ar-Razâq fordert eine rasche Integration aller Rebellen in ein kohäsives Bündnis, welches dem Asad-Regime als eine Art Alternativregierung entgegentreten könnte, sei dies nicht möglich, dann müsse des bestehende Jaysh al-Fath Bündnis ausgeweitet werden, so dass auch FSA-Brigaden sich eingliedern könnten. Eine Forderung, die alles andere als neu ist. Ruft doch spirituelle Führer und Qâdî der Jaysh al-Fath Abdullah al-Muhaysinî schon seit seiner Ankunft in Syrien bei jeder Gelegenheit dazu auf, dass die Rebellen, vorab die islamischen, endlich eine funktionale Einheit bilden sollten. Solche Aufrufe stossen zwar nicht auf taube Ohren, sind oft gehörte Forderungen und im Prinzip gibt es auch keine einflussreiche Gruppe, die dagegen wäre.

Dass sich Prinzip und Praxis aber nicht immer decken, gilt auch in diesem Fall. So haben die verschiedenen Gruppen teils stark abweichende Interessen und Ziele. Selbst Abdullah al-Muhaysinî sagte im Oktober 2015 im Interview mit Naim Cherni, dass eine Einheit nicht um jeden Preis erzielt werden könne. Er zog die Grenzen dort, wo die Ziele einer Gruppe von der Etablierung eines islamischen Systems abwichen. Auf der anderen Seite des Spektrums, insb. bei den FSA-Gruppen, die in der Vergangenheit militärische Hilfe aus NATO-Staaten bezogen, gibt und gab es Berührungsängste mit islamischen Faktionen, insbesondere mit der neben Ahrar ash-Shâm wohl einflussreichsten JFS (Jabhat Fath ash-Shâm), bis zu ihrem Rebranding letzten Juli, der offizielle Vertreter der al-Qâ‘ida in Syrien. Der Vorwurf aus den Reihen der JFS, diese Gruppen würden vor dem Westen und seinen Interessen den Bückling machen, klang mit Blick auf die Lage der syrischen Revolution trotz aller ernstzunehmenden Vorbehalte zunehmend weltfremd. Am 27. Juli setzten die SAA-Truppen über die Castello-Strasse und schnitten damit auch physisch Ost-Aleppo von der Aussenwelt ab. Der Druck wurde so gross, dass sich die einstige Nusra-Front im Interesse der Revolution am 28. Juli formell von der Unterordnung unter die al-Qâ‘ida löste. Der von Abû Muhammad al-Jûlânî persönlich verkündete Schritt galt weitum als längst überfällig und wurde von allen revolutionären Akteuren einhellig begrüsst. Nicht nur das: Drei Tage später war der Weg frei, für den Beginn einer schon länger geplanten Gegenoffensive unter der Führung der JaF. Innert Wochenfrist gelang es den vereinten Rebellen von Ost-Aleppo her und von aussen den Belagerungsring bei Ramouse auf einer Länge von gut einem Kilometer unter hohem personellen Aufwand zu durchbrechen. Während das Regime in Panik geriet, waren die Chancen der Rebellen intakt, den Korridor nach Norden und Süden weiter aufzubrechen, um ihn für die Allgemeinheit passierbar zu machen. Bis heute bleibt unklar, warum die erfolgreiche Offensive nach dem 6. August zum Stillstand kam. Bis am 21. August blieb die taktische Lage unverändert. Dann holte das Regime am 22. August zum Gegenschlag aus und schloss den hart erkämpften Korridor innert zwei Wochen wieder. Ein zweiter Versuch Ende Oktober, an derselben Stelle nach Ost-Aleppo durchzubrechen, scheiterte kläglich.

Die Rolle der Türkei

Was hielt dir Rebellen zurück? Waren es tatsächlich die starken russischen Luftangriffe auf Ramouse, die ein Halten der Position verunmöglichten? Wäre es nicht gerade darum im Interesse der Rebellen gewesen, die Front in Bewegung zu halten. Bekanntlich lassen sich bewegliche Fronten schlechter aus der Luft bombardieren, da andernfalls mit hohen friendly fire Quoten gerechnet werden muss. Waren es wiederum Meinungsverschiedenheiten zwischen den Rebellengruppen oder gar Befehle aus dem Ausland? Die Antwort darauf fällt je nachdem, an wen man die Frage richtet, unterschiedlich aus.

Eine signifikante Rolle dürfte derweil die veränderte politische Situation in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. auf den 16. Juli gespielt haben. Im Zuge der verhaltenen Reaktionen aus dem Westen, die ein eigentliches Bedauern am Scheitern der Putschisten vermuten liessen, sah sich Erdogan offenkundig genötigt, seine Allianzen neu zu schmieden. Die Türkei liegt historisch und geografisch sowohl in der Einflusssphäre des Westens als auch in jener Russlands. Sind die Beziehungen zum Westen zunehmend strapaziert, braucht man in Ankara gewissermassen eine Rückversicherung aus Moskau. Mit beiden Machtpolen gleichzeitig im Klinsch zu liegen, wäre mittel- und langfristig ein riskantes Unterfangen. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Erdogans Bussgang nach St. Petersburg am 9. August, also nur drei Tage nach dem Durchbruch bei Ramouse erklären. Während dem eher kühlen Gipfeltreffen mit seinem «Freund» Putin, wirkte der sonst stets gefasst auftretende türkische Präsident eher zerknittert bis unsicher. Man sieht ihm seine Unlust geradezu an. Doch Lust und Gefühle haben in der Interessenpolitik wenig Platz. Es ist nicht auszuschliessen, dass damals der Entscheid fiel, Ost-Aleppo aufzugeben, um dafür von Moskau neben der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen und des bilateralen Handels grünes Licht zum Start der Operation «Euphrat Shield» in Nord-Aleppo zu erhalten. Tatsächlich marschierten türkische Truppen nach jahrelanger wiederholter Ankündigung am 24. August auf Seiten loyaler Rebellen, vorderhand der Sultân Murâd Brigade, in Nordsyrien ein. Im Vordergrund stand der Kampf gegen den IS, wobei es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis sich der Fokus auf die Gebiete der YPG verschieben wird.

Wird Ost-Aleppo also Opfer eines türkisch-russischen Handels? Auszuschliessen wäre es nicht. Schon einmal, hört man unter Rebellen sagen, habe die Türkei den Rückzugsbefehl aus einem eroberten Gebiet gegeben. Damals im Sommer 2014, nachdem Rebellen angeblich sogar über türkisches Hoheitsgebiet die mehrheitlich armenisch-christliche Küstenstadt Kasab eingenommen hatten, soll der internationale Druck auf die Türkei derart angewachsen sein, dass sich Ankara genötigt gesehen habe, die Rebellen zum Rückzug aus dem Küstenstreifen zu bewegen. Wie so vieles im Syrien-Konflikt bleibt auch dieser Vorhalt vorläufig unbewiesen.

Was folgt auf Aleppo?

Ein Sprichwort, welches Salâhuddîn al-Ayyûbî zugeschrieben wird, besagt, dass wer Aleppo kontrolliere, ganz Bilâd ash-Shâm beherrsche. Trotz aller Katerstimmung in den Reihen der Rebellen, dürfte diese alte Formel nicht ganz so nahtlos auf die heutige Situation applizierbar sein. Strukturell herrscht z.B. in der Provinz Idlib eine ganz andere Realität als in Aleppo. Zum einen sind die Rebellen in Idlib mehrheitlich islamischen Faktionen untergeordnet, welche seit März 2015 in der Jaysh al-Fath vertreten sind. Nach dem Erfolg in Idlib, geriet das Bündnis vorübergehend in eine Art Sinnkrise, die es jedoch nach dem Rauswurf und der Auflösung der IS-nahen Jund al-Aqsâ (JaA) und dem Rebranding der einstigen Nusra-Front erfolgreich überwand. Seither scheint das Bündnis wieder in der Lage, Grossangriffe zu planen und erfolgreich durchzuführen, wie der Durchbruch bei Ramouse am 6. August zeigte. Ausserdem dürfte der Fall Ost-Aleppos – so zynisch es klingen mag – auch Rebellen freisetzen, welche früher oder später im Rahmen eines noch zu verhandelnden Abkommens die belagerte Stadt in Richtung Idlib – sprich zugunsten der JaF – verlassen könnten. Gut möglich, dass die JaF den nächsten Grossangriff – sei es im nördlichen Hama, wo das Bündnis diesen Herbst bereits einige Erfolge verbuchen konnte oder aber im südlichen Aleppo bereits plant. In jedem Fall sind die Rebellen gut beraten, ihre Schlüsse aus den Fehlern in Nord- und Ost-Aleppo zu ziehen und zukünftig auf eine militärische und politische Einheit hinzuarbeiten.

Dies wäre denn auch die Voraussetzung für den Auf- und Ausbau taktischer Allianzen mit dem Ausland, vorab mit der Türkei und den arabischen Golfstaaten. Allen Unkenrufen zum Trotz sind solche Allianzen bisher kaum über einzelne Projektebenen hinweggekommen. Eine starke geeinte militärische und politische Opposition mit klaren Zielen und einer unzweideutigen Hierarchie würde mehr Glaubwürdigkeit auf dem diplomatischen Parkett ausstrahlen und könnte sicher auch autoritativer auftreten, als dies bisher durch einzelne Gruppen und Grüppchen möglich war. Die direkte internationale Unterstützung durch Russland, den Iran, den Hizballah, schiitische Milizionäre aus Afghanistan und dem Irak und indirekt durch das westliche Islamismus Containment fungieren als entscheidender Faktor für den jüngsten Erfolg des Regimes, während auf Seiten der Rebellen so gut wie keine nennenswerte internationale Vernetzung (mehr) besteht.

Der Extremismus-Faktor

Massgeblich geschwächt wurden die Rebellen freilich nicht zuletzt, durch den in ihren Reihen zunächst tolerierten theologischen Extremismus des IS und anderer destruktiver Takfîrî-Gruppen. So weit so klar. Doch der Extremismus, welcher der syrischen Revolution im engeren Sinne und der islamischen Bewegung im Allgemeinen grossen Schaden zugefügt hat, macht nicht vor den IS-Freaks und ihrer wahnsinnigen Ideologie Halt. Bereits kurz nach Ausbruch der bewaffneten Revolution, trugen gewisse Kreise, den im Irak durch Abû Mus‘ab az-Zarqâwî gesäten Hass gegen die Schiiten aus rein ideologischen Gründen nach Syrien. Abgesehen davon, dass sich der sunnitisch-schiitische Antagonismus à la Zarqâwî schon im Irak als katastrophaler strategischer Fehler erwies, war das Narrativ der syrischen Revolution, sich gegen den Tyrannen Asad zu erheben, zu jederzeit stark genug, so dass es dem anti-schiitischen Topos sehr gut auch hätte entbehren können. Die Vehemenz des Schiitenhasses im Irak und später in der syrischen Revolution dürften massgeblich dazu beigetragen haben, die Ränge schiitischer Machtfaktoren im Mittleren Osten hinter dem syrischen Regime zu vereinen und mehr noch, die heutige Reziprozität dieses destruktiven Hasses erst verursacht haben. Für die islamische Bewegung in Syrien und darüber hinaus ist es an der Zeit, diese Fehlentwicklung zu bremsen, die Untergrabung der selbst zugewiesenen Legitimität als Vertreter einer transzendentalen Gerechtigkeit nicht so fahrlässig mit dem Blut unschuldiger schiitischer Frauen, Kinder und Greise weiter zu fördern.

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