8b48a3d3ff200010263c0fc8d232b3ac_LWorum geht es bei den aktuellen Auseinandersetzungen in Ägypten? Abdel Azziz Qaasim Illi erklärt, weshalb diese Tage entscheidend für die Zukunft des Islams am Nil sein werden.

Von Abdel Azziz Qaasim Illi

Die zunehmende Polarisierung in Ägypten, begleitet von Grossdemonstrationen und Strassenschlachten, politischen Amokreden und einem stündlich steigenden Angstbarometer vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen ist Abbild einer ganz entscheidenden Grundsatzfrage, vor die Ägypten nach dem Fall des langjährigen Systems Abdel Nasr-Sadat-Mubarak quasi über Nacht gestellt wurde.

Unter dem Mubarak System war das Land politisch und ideologisch eingefroren, konnte sich weder signifikant nach links, noch nach rechts, nicht in Richtung Liberalismus oder islamischer Vergesellschaftung entwickeln. Mubarak machte Politik, diktierte dem Volk eine spezifisch ägyptische Art des Biedermeiers, eine Lebenshaltung, die den Rückzug ins Familiäre, ins kleine Eigenheim aber – und das war wohl so nicht beabsichtig – eben auch ins Religiöse begünstigte.

Geschulten Beobachtern ist schon lange klar, dass der Islam im Alltag der Ägypter schon früher eine vergleichsweise grosse spielte. Hassan al Banna, der Gründer der Muslim Bruderschaft, formulierte seine anti-kolonialistische Haltung bereits in den späten 1920er Jahren aus der Perspektive des Islams heraus – und nicht etwa in den Tönen der damals verbreiteten sozialistischen Befreiungsrhetorik. Nach dem Abzug der Briten widmete sich die Bruderschaft stärker der sozialen Fürsorge und Predigt. Politisch gelang es ihr nie Fuss zu fassen, obwohl sie nicht erst seit der Revolution in breiten Gesellschaftsschichten auf Zustimmung stiess. Grund war die massive politische Repression, die vom System Nasr-Sadat-Mubarak ausging. Massenverhaftungen, Folter und politischer Mord waren die Mittel, die einem weiteren Popularitätsgewinn der Bruderschaft entgegenwirken sollten. Doch die Rechnung ging nicht auf. Mit ihrer konsequenten Fortsetzung der Systemkritik trotzte sie aller Repression und gewann dadurch noch mehr Ansehen im In- und Ausland. Bekannte Vertreter, wie der von Abdel Nasr hingerichtete Sayyid Qutb, legten bereits in den 1950er Jahren die theoretischen Wegzeichen für den Aufbau einer sozial gerechten islamischen Gesellschaftsordnung.

Seit den späten 90er Jahren hielt eine weitere Strömung Einzug in Ägypten: Die heute pauschal „Salafis“ genannten islamischen Puritaner. Sie konzentrierten sich bis zur Revolution auf die Da’wa und Predigt und sagten sich von wenigen Ausnahmen ganz von der Politik los. Damit gewannen sie im Vergleich zu den stark politisierten Muslim Brüdern im System Mubarak gewissen Handlungsfreiraum. Mubarak musste eine apolitische Frömmigkeitsbewegung, die zudem seine Herrschaft noch als unantastbar beschrieb (Gebot des Gehorsams gegenüber dem Herrscher), sehr gelegen kommen. Er liess die Herausbildung puritanischer Ideen im öffentlichen Raum zu, wenn auch unter ständiger Aufsicht und in engen Grenzen. Prediger wie Muhammad Hassan oder Abu Ishaq al Huwayni haben heute als de facto Autoritäten in islamischen Fragen der Al Azhar ihren Rang abgelaufen. Die Al Azhar galt vielen als zu regimetreu und verstaubt. Sie hat an Glaubwürdigkeit eingebüsst und konnte diese auch im Nachgang an die Revolution nicht wieder herstellen. Sie spielt im gegenwärtigen Ägypten eine klare Nebenrolle.

Eine ebenfalls nicht zu unterschätzende Rolle im Bereich der Da’wa und Predigt spielte seit jeher die Jama’at Tabligh, die sich wie die Puritaner ganz von der Politik fernhielt und einen stärker spiritualistischen Ansatz vertritt. Ihre Mitglieder sind in der Regel in den Moscheen aktiv, organisieren Seminare, Qur’an-Lesungen und ‘Itikaf im Ramadan.

Wir können also davon ausgehen, dass wir es in Ägypten am Vorabend der Januar Revolution mit einer stark islamisch geprägten Gesellschaft zu tun hatten. Wie reell diese Annahme ist, sollte sich schon sehr bald in den Parlamentswahlen manifestieren. Beobachter waren vom guten Abschneiden der Muslimbrüder weit weniger überrascht als vom Erdrutschsieg der Puritaner, die gut 27% der Sitze für sich gewannen. Zusammen mit den Muslim Brüdern kamen sie auf über 64%. Das Volk hat deutlich Islam gewählt! Auch in den Präsidentschaftswahlen konnten die Muslimbrüder – wenn auch viel knapper – die Oberhand behalten und mit Muhammad Mursi den ersten frei gewählten ägyptischen Präsidenten stellen.

Wenn man heute von „der Opposition“ spricht, meint man in der Regel alle, die sich nicht den Islam auf die Flaggen geschrieben haben. Das sind Sozialisten, Liberalisten, Nasseristen, ehemalige Mubarak Anhänger und noch einige weniger starke Faktionen dazwischen. Diese Opposition ist sich natürlich inhaltlich völlig uneinig. Wie sollen sich Sozialisten und Liberalisten auch über Fragen der Wirtschaft einig werden? Einig sind sie sich vorderhand in einem einzigen Punkt: Sie wollen den Islam nicht in der Verfassung und sie wollen die Karten neu mischen, weil sie mit ihrem schlechten Abschneiden in den Wahlen naturgemäss Mühe haben.

Nur haben sie eben das Problem, dass das ägyptische Volk bereits zweimal seine Zielrichtung in freien, demokratischen Wahlen zum Ausdruck gebracht hat und damit den Wahlgewinnern die legitime Grundlage zugesteht, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Die Frage, die sich die Opposition stellen musste, war die: Wenn wir es über den Volkswillen nicht nach unseren Wünschen biegen können, wie dann? Im korrupten ägyptischen Justizsystem fanden sie die Antwort. Die noch von Mubarak ernannten Richter sollten den Willen des Volkes für „verfassungswidrig“ erklären. Zunächst knüpften sich die ernannten Richter das gewählte Parlament vor. Sie behaupteten einen Formfehler gefunden zu haben und lösten es kurzerhand wieder auf, um zu verhindern, dass jenes beginnt, Gesetze zu erlassen, die das Land so dringend bräuchte. Dann ging es der Verfassungsversammlung an den Kragen. Mehrfach intervenierten die Richter und verunmöglichten damit ein Fortschreiten des politischen Prozesses. Zuletzt bliesen die Richter zum Angriff auf die präsidialen Dekrete. Entscheidung für Entscheidung, die der gewählte Präsident fasste, wurde von den ernannten Mubarak Richtern wieder nullifiziert. Ein völliger Reformstau und eine wirtschaftliche Katastrophe zeichneten sich ab.

Präsident Mursi hatte die Wahl. Er konnte weiterhin zusehen, wie die alten Richter den revolutionären Entwicklungsprozess und damit das ganze Land lähmten oder er musste seine Machtkarte ausspielen und dem ganzen Tauziehen zwischen Opposition und Regierungslager ein Ende setzen. Am 22. November holte Mursi zum Gegenschlag aus und entliess den Generalstaatsanwalt Abdulmaged Mahmud. Ihm wurde von allen Seiten Unfähigkeit oder gar Befangenheit attestiert, nachdem mehrere seiner Anklagen gegen Polizeioffiziere scheiterten, die mutmasslich Demonstranten getötet haben sollen. Zugleich erklärte der Präsident, dass ab sofort und bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung seine präsidialen Dekrete nicht mehr durch ein Gericht anfechtbar seien. Darauf reagierte die Opposition, die mit allen Mitteln an der Störung des politischen Prozesses arbeitet, mit Protesten. Sie besetzte den Tahrir-Platz mit Dutzenden von Zelten, baute willkürliche Strassensperren auf und verbreitet seither Angst und Schrecken mittels Gewalt.

Unterdessen hat die Verfassungsversammlung ungestört von den Machenschaften der Mubarak Richter ihre Arbeit abgeschlossen und eine neue Verfassung geschrieben, über die das Volk freilich am 15. Dezember an der Urne abstimmen soll. Erneut stellt sich die Opposition quer. Klar, sie hat ja in der jüngsten Vergangenheit mit dem Volk schlechte Erfahrungen gemacht. Sie weiss, dass sie in einem demokratischen Prozess nicht gut abschneidet. Deshalb lehnt sie die Volksabstimmung ab und setzt stattdessen auf Provokation und Gewalt. Wenn ihr Wille kein Gehör finde, dann gleite das Land in den Bürgerkrieg ab, liessen El-Baraday, Sabahi und Amr Moussa in den vergangenen Tagen mehrfach verlauten.

Warum können diese Herren, allen voran der Friedensnobelpreisträger El Baraday, den demokratischen Volkswillen nicht respektieren? Warum ziehen sie bürgerkriegsähnliche Zustände einer geeinten Gesellschaft vor? Sicher spielen politische Machtgelüste eine grosse Rolle. Dies jedoch zum einzigen Erklärungsansatz zu erheben, greift zu kurz. Vielmehr geht es der Opposition darum, den islamischen Charakter des zukünftigen Ägyptens mit allen Mitteln zu verhindern. Ihnen ist sehr bewusst, dass in diesen Tagen die Weichen für die Zukunft gestellt werden.

Findet der vorliegende Verfassungsentwurf beim Volk Anklang, würde die Grundlage für eine moderne islamisch geprägte Staatsform geschaffen. Der Entwurf geht in der Ausformulierung gemeinschaftlicher Grundrechte übrigens noch weiter als manch westliches Modell. Zum Beispiel würden Christen und Juden von einer Ausweitung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum profitieren, die Macht des Präsidenten würde massiv beschränkt, viele seiner Kompetenzen gingen ans Parlament über und sogar direktdemokratische Elemente (Volksabstimmungen) z.B. im Falle der Verlängerung eines Ausnahmezustands wiederspiegeln den Unwillen der Ägypter, ihre neu gewonnene Freiheit wieder aufzugeben.

Und dennoch: Die Opposition will keinen Islam in der Verfassung. Sie kann sich bisher nicht positiv ausdrücken, was sie denn will, bleibt unklar und diffus. Negativ scheint es besser zu klappen und hier stehen wir heute. Wir haben eine Nein-Sager Opposition, die aus Prinzip gegen die islamischen Kräfte agiert, obwohl sie sich selbst gar nie auf eine auch nur annährend mehrheitsfähige politische Agenda einigen könnte.

Wie geht es nun weiter? Dass historische Vergleiche meist hinken, soll nicht bestritten werden. Hier trotzdem einen zur Veranschaulichung: Ägypten steht politisch gewissermassen dort, wo die Schweiz vor dem Sonderbundkrieg 1847 angekommen war. Liberalisten und Konservative kämpfen um die Deutungshoheit über das post-revolutionäre Ägypten. Gelingt es den Liberalisten (nicht dem Sozialisten Sabahi), Ägypten durch einen Werteimport dem westlichen Modell der Moderne unterzuordnen, dann dürfte für das Islamische im öffentlichen Raum nur noch wenig Platz bleiben. Die Idee des Laizismus, also der strikten Trennung von Staat und Kirche, ist erklärtes Programm der Liberalisten. D.h. in der Praxis käme es zu einer schrittweisen Zurückdrängung des Islams auf die Ebene des Kults. Auf die Rechtsprechung hätte die Shari’a keinerlei Einfluss mehr, noch weniger als unter Mubarak, wo doch immerhin mit Artikel 2 dem islamischen Recht die Grundlage der ägyptischen Jurisprudenz zugestanden wurde.

Betrachtet man wie sich die Lage des Christentums in der Schweiz nach der militärischen Niederlage der Konservativen entwickelt hatte, so wird eines schnell klar. Die liberalistischen Sieger drückten nicht nur der Verfassung, sondern der ganzen Gesellschaftsentwicklung ihren Stempel auf. Letzte Hoffnungen der Kirche, ihre konservative Werteordnung zu erhalten, wurden im nachfolgenden Kulturkampf zwischen liberalem Staat und der Kirche (1870er Jahren) zerschlagen. Nunmehr fügte sich die Kirche in die Rolle der Nachbuchstabierenden. Der liberalistische Diskurs überholte die normative Weltsicht des Christentums mit seinen neu geschaffenen Normen Schlag auf Schlag bis sich die Menschen für den Glauben an Gott zu schämen begannen.

Wer nun glaubt, dass ein solches Szenario in Ägypten auch unter liberalistischer Herrschaft unwahrscheinlich sei, der möge sich an die Zeit unter Abdel Nasr zurückerinnern. Damals, in den 1960er Jahren, prägten in Kairo mehr Ägypterinnen in Miniröcken das Strassenbild als solche in islamischer Bekleidung und der Alkohol floss in Strömen. Ob sich die eine oder die andere Lebensweise durchsetzt, ist nicht Sache des Zufalls. Gelingt es den islamischen Kräften, einen funktionsfähigen, effizienten und perspektivreichen islamisch geprägten Staat aufzubauen, dann stehen die Chancen gut, dass der Islam für breite Schichten der Gesellschaft auch in Zukunft Hauptquelle der Sinnproduktion bleibt.

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