Das Erstarken des Islamischen Staates, die an simple Kriegspropaganda erinnernde Berichterstattung zum Mittleren Osten, die US-geführten Angriffe im Irak und Syrien in Verbindung mit der zunehmenden Islamophobie stellen den sozialen Frieden nun auch in Mitteleuropa vor grosse Herausforderungen. Eine Analyse.
Von Abdel Azziz Qaasim Illi | @qaasimilli folgen |
Im Nahen Osten steht die islamische Weltgemeinschaft vor den grössten Herausforderungen seit dem Fall des osmanischen Kalifats 1924: Ein polyzentrischer Konfliktherd, das Gegenteil von Stabilität und Sicherheit, im Wandel begriffene Staats- und Gesellschaftsordnungen, konfligierende wie konvergierende lokale, regionale und globale Interessen. Komplexität pur. Einige Essayisten haben gar den Vergleich mit dem 30-Jährigen Krieg gewagt, welcher 1618-48 quer durch Europa ausgefochten wurde. Historische Vergleiche sind jedoch selten fruchtbar und schaffen indes mehr Verwirrung, als dass sie dem Leser den Zugang zur Problematik erleichtern würden. Voraussetzung für eine fruchtbare komparative Thesen-Diskussion wäre eine tiefgreifende Kenntnis der zu vergleichenden Parameter im 17. Jh. wie heute. Über solche verfügen bestenfalls eine Hand voll Frühneuzeithistoriker mit einem festen Standbein in der Islamwissenschaft und der Geopolitik.
Ein genaues Hinschauen auf die derzeitigen Vorgänge ist dafür umso angezeigter. Im Folgenden soll anhand aktueller Entwicklungen seit dem Eingreifen des US-geführten Staatenbündnisses die Frage aufgeworfen werden, wie der eskalierende Konflikt auf die in Mitteleuropa lebenden Muslime wirkt und weshalb eine sphärische Trennung zwischen der Realität in den mittelöstlichen Kampfzonen und dem heilen Leben in Mitteleuropa auf Dauer immer schwieriger werden dürfte. Zunächst aber erstmal einen Blick auf die jüngsten Entwicklungen im letzten Jahr in Syrien und eher am Rande auch im Irak und den Aufstieg des IS zu einem regional gewichtigen Akteur.
Konflikte unterstehen in ihrer Wahrnehmung genauso wie jeder andere für uns Menschen relevante Prozess einer konstanten Neubewertung. Noch vor einem Jahr hätten die meisten sunnitisch-muslimischen Beobachter in Europa das Geschehen in Syrien als reinen Volksaufstand gegen das tyrannische Regime Bashar al-Asads beschrieben. Man fühlte mit den Opfern des Konflikts, sammelte auch die eine oder andere Spende und hoffte auf ein baldiges Ende des Regimes. Daran hat sich auch heute kaum was geändert. Doch mit dem Erstarken des IS, seiner einstweilen brutalen Marginalisierungspolitik gegenüber allen anderen Rebellengruppen, seinem territorial-staatlichen Machtanspruch, so dann der Ausrufung des Kalifats und der darauf folgenden vom Westen initiierten militärischen Intervention ergibt sich eine völlig neue Realität. Aus einer zunächst national gedachten Volksrevolution entwickelte sich ein regionaler Aufstand gegen die gesamte postkoloniale Ordnung. Neu werden nicht mehr nur freiheitsliebende Syrer und lokal-partikularistisch ausgerichtete islamische Kräfte emotional und geistig vom Geschehen berührt, sondern Muslime weltweit kommen unter Zugzwang und müssen sich in irgendeiner Art und Weise eine Meinung bilden – sei es weil, die Medien sie dazu direkt auffordern, sei es weil die Thematik allgegenwärtig diskutiert wird und man sich als Muslim nolens volens in die Expertenrolle versetzt sieht oder sei es weil man ein gesundes ureigenes Mass an Verantwortungsbewusstsein für den Zustand der islamischen Weltgemeinschaft d.h. der Umma in sich trägt.
Als die ISIS im vergangene Januar den bereits seit Wochen entführten lokalen Ahrar ash-Sham Kommandeur Abu Rayyan bei Maskana brutal hinrichtete, eskalierte der bereits Monate schwelende Machtkampf zwischen der ISIS und allen übrigen Rebellengruppen und entwickelt sich zu einem weitum als „fitna“ interpretierten Bruderkrieg. Nie dürfte die Ablehnung gegen den ISIS sowohl in Syrien wie auch in der Wahrnehmung des aussenstehenden muslimischen Beobachters heftiger gewesen sein als damals. Hatte sich doch eine Gruppe angemasst, Muslime nur wegen der Angehörigkeit zu einer anderen Rebellengruppe zu exkommunizieren und auf teils schockierend bestialische Weise hinzurichten. Islamische Rechtsgutachter erklärten die wütenden Banden der ISIS zu Abtrünnigen „khawaarij“ und legitimierten damit den geeinten Abwehrkampf aller anderen Rebellengruppen gegen den selbsternannten Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Wer damals die Lage in Syrien verstand, konnte weder aus islamisch-normativer Sicht noch aus rationalen, taktischen oder strategischen Denkanstrengungen heraus Sympathien für den ISIS pflegen. Doch die Geschichte machte keinen Punkt in jenem Frühjahr. Der ISIS erwies sich rasch als durchwegs professionell organisierte und taktisch allen anderen Gruppen überlegene Streitmacht mit einem ganz anderen Ziel als es sich die übrigen Rebellengruppen abgesteckt hatten. Nie ging es den Trägern der schwarzen abbasidischen Shahada-Fahne allein um den lokalen Kontext in Syrien. Aus ihrer Sicht war die Vielzahl an handelnden Rebellengruppen, die Anwesenheit der westlich orientierten FSA mit ihrer institutionellen Bindung an die syrische Nationalkoalition, die übrigens bei allen islamischen Rebellengruppen im unrühmlichen Ruf steht, als westliche Marionette in der post-Asad Ära den Aufbau einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung unterbinden zu wollen, eine ernste Gefahr – ernster offenbar als der eigentliche Feind al-Asad. Bosnien muss in diesem Zusammenhang oft und gerne als abschreckendes Beispiel herhalten: Nachdem ab 1992 Hunderte ausländische Mujahidin in den Reihen der bosnischen Streitkräfte gegen die serbischen Aggressoren kämpften, wurden sie nach dem Ende des Kriegs zusammen mit allen anderen Altlasten kurzerhand entsorgt. Da aufgrund der repressiven Regime an eine Rückkehr in ihre Heimatländer schon damals nicht mehr zu denken war, erhofften sich viele ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Bosnien. Der bosnische Staat aber schob sie reihenweise ab.
Die ISIS hatte anders als alle anderen Rebellengruppen von Anfang an eine klare Strategie, wie sich die Geschicke im Mittleren Osten zukünftig weiterentwickeln sollten. Nichts weniger als die Rückkehr zur kaliphalen Ordnung stand auf der Agenda. Abu Bakr al-Baghdadi legte sich lange vor der Selbstadelung zum Kalifen bereits den Titel „amir al-mu’miniin“ (Befehlshaber der Gläubigen) zu und verlangte seinen Anhängern den irreversiblen Treueeid al-bay’a ab. An dieser Stelle soll nochmals auf die Problematik der Wahrnehmung hingewiesen werden. Während Aussenstehende im Frühjahr von einer „fitna“, also einem chaotischen Bruderkrieg zwischen den Rebellen ausgingen, blickte der inneren Kreis der ISIS aus einer ganz anderen Perspektive auf die Vorgänge. Ihnen ging es gerade um das Gegenteil von Chaos. Sie hatten sich dazu ermächtigt, Struktur und Einheit herzustellen, in einer freilich blutigen Blitzoffensive sollten alle Hindernisse auf dem Weg zum Kalifat beseitigt werden – was ihnen spätestens mit der Unterwerfung der Sha’yatat-Stämme im ostsyrischen Deir e-Zour auch gelang. Mit der Übernahme Mosuls und weiterer wichtiger Gebiete im nördlichen Irak, der daraus folgenden territorialen Kohärenz vom syrischen al-Bab bis vor die Tore Bagdads, der symbolträchtigen Niederreissung der Sykes-Picot Grenzen und der Ausrufung des Kalifats manifestierte sich die wahre Absicht des nunmehr verkürzt „Islamischer Staat“ genannten Gebildes. Aus einem scheinbar ziellosen Volksaufstand in Syrien und in gewisser Hinsicht auch im Irak (sunnitischer Aufstand gegen das schiitische Zentralregime) entwickelte sich mit rasender Geschwindigkeit eine strukturschaffende Alternative zur postkolonialen Ordnung in der ganzen Region. Was noch vor Monaten als unmöglich galt, erscheint auf einmal zum Greifen nahe: Eine Neuordnung der arabisch-islamischen Welt nach den Normen des Islams anstatt nach westlich oktroyierten Massstäben.
Doch fernab aller euphorischen Schwärmerei gab es zu jederzeit auch innerislamischen Widerstand. Der Preis dieser angestrebten Neuordnung erscheint vielen zu hoch. Gelehrte aller Couleur, selbst gestandene Ideologen der islamischen „Jihadi“-Bewegung wie Abu Muhammad al-Maqdisi oder Abu l-Qatada gingen auf Distanz und kritisierten das Vorgehen des IS scharf: Zu blutig, zu extrem ist ihnen der Krieg geworden. Vor allem aber tun sie sich schwer mit der Leichtigkeit, mit welcher IS-Kommandeure Andersdenkende und Kritiker aus dem Islam ausschliessen, um sie anschliessend liquidieren zu können.
Exkurs: Die verhängnisvolle Niederschlagung der MB-Softies
Dass sich wohl jeder Muslim zumindest im Herzen eine islamische Ordnung für die islamische Welt wünscht, ist kein Geheimnis. Doch über die Ausgestaltung dieser Ordnung herrscht alles andere als Einigkeit. Muss es ein Kalifat nach altem Muster sein, welche Rollen spielen nationale Grenzen und welches Regierungssystem vermag Norm und Praxis am besten unter einen Hut zu bringen?
Die brutale Niederschlagung des ersten frei gewählten Staatschefs Ägyptens durch die Armee löste in allen vom Arabischen Frühling erfassten Gesellschaften im Sommer 2013 Schockzustände aus. Dass es dem Westen, wie seine Vertreter stets beteuerten, um Freiheit und Selbstbestimmung der arabischen Völker ging, hatte kaum jemand in der Region tatsächlich erwartet. Dass dem Westen aber an einer völligen Restauration der alten Herrschaftseliten in Ägypten gelegen war, vermuteten noch weniger. Ohnmächtig und ungläubig blickte die islamische Bewegung auf die TV-Screens als am 3. Juli 2013 Armeechef Abdel Fattah as-Sisi, flankiert vom Sheikh al-Azhar Ahmed at-Taiyyb, dem koptischen Papst Tawadros II und dem Friedensnobelpreisträger Muhammd el-Baradei nach nur einem Jahr im Amt Muhammad Mursi für abgesetzt erklärte. Washington und die EU waren im Bilde und gaben wie man heute weiss hinter den Kulissen grünes Licht. Der Westen fürchtete sich vor einer selbstbestimmten islamisch ägyptischen Gesellschaft. Eine solche hätte ihre Regierung unangenehmerweise dazu verpflichtet, die politischen und wirtschaftlichen Interessen Ägyptens in der Vordergrund zu stellen, anstatt sich den diesbezüglichen Weisungen Washingtons zu unterwerfen. Die westliche Ablehnung gegen eine freiheitliche islamische Neuordnung in ihren ehemaligen Kolonien beschränkt sich nicht nur auf Ägypten. Die billigende Haltung Europas vor dem Hintergrund des Militärputsches in Algerien 1992 ist unvergessen. Damals liessen sich die Generäle weniger lange Zeit, um die Genese einer freiheitlichen Ordnung abzuwürgen als jüngst in Ägypten. Sie brachen die Wahlen abrupt ab, als ein Wahlsieg der FIS unausweichlich schien. Noch direkter greifbar wurde die westliche Abneigung einer moderat-islamischen Regierung in den Palästinensergebieten als 2006 die Hamas die Wahlen gewann. Mit Sanktionen und einem Embargo wurden die Palästinenser dafür abgestraft, dass sie genau das taten, was der Westen doch stets fordert: freies Wählen an der Urne. Dabei waren alle diese Wahlsieger ideologisch auf der Linie der Muslimbruderschaft. Dies ist deshalb so bezeichnend, weil jene sich innerhalb der islamischen Bewegung am ehesten bereit gezeigt hat, islamische Herrschaft in den normativen Korridoren des westlich-demokratischen Systems auszugestalten. Weder die FIS, noch die MB in Ägypten oder die Hamas zielten darauf ab, ein Kalifat zu errichten oder stellten die nationalstaatlichen Strukturen in der arabischen Welt grundsätzlich in Frage. Vielmehr ging es ihnen um den Versuch einer innerislamisch zwar umstrittenen Symbiose zwischen Demokratie und islamischer Norm. Diese als „Weg durch die Institutionen“ bekannte Stossrichtung der Muslimbruderschaft verlor nach dem fulminanten Scheitern in Ägypten an Überzeugungskraft. Al-Qaida wie IS-Ideologen fühlten sich bestätigt: Wer ein islamisches System innerhalb der normativen Korridore des Westens suche, der müsse zwangsläufig scheitern und weiter: Ein islamisches System entstehe nur in Abgrenzung zur vom Westen gelegten nationalstaatlichen Ordnung in der arabisch-islamischen Welt und nicht im Rahmen jener.
Ansätze für einen weiteren Versuch „den Weg durch die Institutionen“ zu nehmen, gibt es derzeit keine nennenswerte. Die gebeutelten und masslos enttäuschten Muslimbrüder haben ihre Handlungsfähigkeit zumindest vordergründig stark eingebüsst und eine eigentliche Strategie aus der Misere scheint derzeit nicht vorzuliegen. Sicher schielen nicht wenige mit gewissem Neid auf die Vorgänge in Syrien und im Irak. Einige vollziehen auch den Bruch mit der MB und schliessen sich kurzerhand dem IS an wie etwa Ahmed ad-Dori, ein ehemaliger Kandidat der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP). Ad-Dori sprengte sich unlängst in der irakischen Provinz Diyala im Rahmen eines IS-Vorstosses gegen die irakische Armee in die Luft.
Man könnte spekulieren, dass ein Fortbestehen der MB-Herrschaft in Ägypten mässigend auf die „Jihadi“-Bewegung eingewirkt hätte. Zumindest nahm die Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung al-Qaida in den ersten Jahren des Arabischen Frühlings gehörig den Wind aus den Segeln. Bin Ladin-Kenner Peter Berger, ein CNN Journalist, der Bin Ladin 1997 persönlich zum Interview traf, sagte das baldige Ende der Organisation und ihrer Ideologie voraus als die wütenden Massen in Tunis und Kairo ihre autokratischen Langzeitherrscher aus den Sesseln jagten.
Doch mit dem Sturz Mursis war dieser Traum erstmal ausgeträumt. Auch Sicht vieler Muslime hatte es der Westen verpasst, den Wunsch einer klaren Mehrheit der Ägypter zu respektieren, als er sich abermals auf die Seite der Tyrannei stellte.
Die US-geführten Angriffe im Irak und Syrien verkomplizieren die Lage
Zurück nach Syrien scheint klar: Das westlich-arabische Eingreifen aus der Luft und mit Waffenlieferungen an die Kurden und die verhasste schiitische Zentralregierung in Bagdad ist der jüngste Versuch, auch in jener Region das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Während es den USA um die Stützung einer auf Washingtons Interessen ausgerichteten Machtelite geht, verfolgen ihre arabischen Partner eine Politik der Restauration. (-> Lese dazu meinen Kommentar: „Den USA und ihren Verbündeten geht es nur vordergründig um einen Kampf gegen den IS“) Insbesondere Saudi-Arabien, die Emirate und Ägypten versuchen mit aller Kraft, eine weitere Ausbreitung des Arabischen Frühlings zu verhindern.
Doch trotz militärischer Überlegenheit scheint der Plan zumindest kurzfristig nicht aufzugehen. Die ausländischen Angriffe in Syrien haben wortmächtige Kritiker des IS vorerst verstummen lassen, richtete sich der Angriff doch nicht exklusiv gegen den IS, sondern auch gegen andere islamische Rebellengruppen. Ausserdem ist allen klar, dass jeder Versuch, westlich hörige Marionetten-Rebellen auf syrischem Boden aufzubauen, nicht im Sinn der syrischen Revolution sein kann. Entsprechend nehmen die Angriffe islamischer Rebellen auf westlich protegierte FSA-Gruppen wie etwa Hazm oder Jamal Ma’ruf stark zu.
Auch kamen die Kämpfe zwischen der Islamischen Front und dem IS im östlichen Umland von Aleppo seit September praktisch zum Erliegen. Dass es noch nicht zu einer Wiedervereinigung der Nusra und des IS gekommen ist, dürfte vor allem der Sturheit und des Stolzes in den Führungszirkeln geschuldet sein. Ideologisch, taktisch und strategisch trennt sie wenig.
Kommt dazu, dass die Effektivität der Luftschläge von aussen nur schwer abzuschätzen ist. Dennoch fällt auf, dass der IS trotz geballter Angriffe an verschiedenen Fronten seit Wochen weiter vorrückt, während sich die USA mit ihren Verbündeten in der Region sichtlich immer schwerer tun. Dies erstaunt kaum. Handelt es sich doch wie eingangs beschrieben um einen polyzentrischen hoch komplexen Konfliktherd, wobei sich lokale, regionale und globale Interessen überlagern und zum Teil heftig aneinander geraten. Die Konstellation ist einmalig ungünstige für die USA. Nicht nur haben sie mit ihrer Aussenpolitik im vergangenen Jahrzehnt Hass und Ablehnung in der Region provoziert. Auch trauen weder der Iran, noch Saudi-Arabien, ja nicht einmal das Regime in Bagdad oder die schiitischen Milizen den USA eine rasche Lösung zu. Mehr noch, sie misstrauen den USA mehr, als sie ihnen vertrauen.
Das sind denkbar schlechte Grundlagen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit gegen einen vermeintlich gemeinsamen Feind. Als ob dies nicht schon genügend Kopfzerbrechen verursachen müsste, bringt Washington nun auch die Türkei noch gegen sich auf. Die Bewaffnung der Peshmerga im Nordirak war an sich schon heikel. Dass nun jedoch auch noch in herrschaftlichem Ton verlangt wird, die Türkei soll den IS aus ‚Ayn al ‚Arab vertreiben, überspannt den Bogen. Und damit nicht genug: Die Regierung Obama liebäugelt jüngsten halbwegs bestätigten Meldungen zufolge gar mit einer direkten Kooperation mit der syrischen YPG, welche der türkischen PKK nahe steht – eine rote Linie für Ankara.
Wie stabil die Kooperation mit den Saudis ist, wird sich schon bald zeigen. Jene dürften derzeit mit grosser Sorge in den Jemen blicken, wo die schiitischen Houthi-Rebellen gerade dabei sind, den Staat unter ihre Kontrolle zu bringen. Nachdem sich ein wohl von Riyad mitgetragener Putschversuch des im Zuge des Arabischen Frühlings gestürzten Machthabers Ali Abdullah Salihs in Kooperation mit den Houthis ausser Kontrolle geraten ist und die Houthis gleich selbst nach der Macht züngeln, herrscht unter den saudischen Eliten Panik. Die Vorstellung, dass im Jemen zukünftig ein schiitisches und pro-iranisches Regime zum direkten Nachbar auf der arabischen Halbinsel wird, ist aus saudischer Sicht völlig unmöglich. Der einzige Akteur, der im Jemen derzeit gegen die Houthis ankommt ist die politisch nicht unproblematischere al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP), welche verschiedenen zwar teilweise dementierten Meldungen nach bereits die Vorherrschaft des IS-Kalifats anerkannt haben soll. Soviel zur komplexen Situation vor Ort.
Die Wirkung auf die Muslime im Westen
Wie verhält es sich nun mit der Wahrnehmung der mittelöstlichen Verhältnisse bei Muslimen in Mitteleuropa? Eine monodimensionale Antwort gibt es nicht, da ja jeder Mensch an sich eine individuelle Wahrnehmung der sich ihm manifestierenden Realität hat. Einige Tendenzen kristallisieren sich jedoch heraus:
Der alles überlagernde Hass zwischen Schiiten und Sunniten verlagert sich zunehmend ins aktive Bewusstsein der hiesigen Muslime. Kontakte zwischen Schiiten und Sunniten gibt es äusserst selten. Mischehen erscheinen völlig tabu und im Internet wird zuweilen nicht mehr nur hitzig debattiert, sondern geradewegs gehetzt. Als sich gar der sonst als besonnen geltende iranische Soziologe Farhad Afshar (Präsident der KIOS) kürzlich gegenüber der Tagesschau dahingehend äusserste, dass der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) die Ausbreitung des Salafismus fördere und daher die Hauptschuld daran trage, wenn Muslime sich als Kämpfer in Kriegsgebiete begäben, war klar, was er damit meinte: Die unmissverständliche Haltung des IZRS gegen das tyrannische Regime Bashar al-Asads deutet Afshar als Engagement gegen ein schiitisches Regime und greift daher in die Diffamierungs-Trickkiste, um sich mit dem „Salafisten“-Kampfbegriff diskurskonform zu bewaffnen.
Je mehr der Westen die Türkei in der Kurdenfrage zu brüskieren wagt, desto stärker nehmen die Spannungen zwischen PKK-Sympathisanten und türkischen Muslimen auf der einen Seite und IS-Anhängern auf der anderen Seite zu. Erdogan gilt heute den allermeisten Muslimen als vorbildlicher Staatsführer, der die islamischen Normen achtet und die Politik des Landes zumindest teilweise den Interessen der Umma unterordnet. Die Türkei bleibt denn auch das einzige lebendige islamische Modell für eine der westlichen Demokratie nicht grundsätzlich abgeneigte classe islamique in West und Ost. Just dieser erfolgreiche Staatschef, das Modell eingeschlossen, sehen viele nicht nur türkische Muslime zunehmend in Gefahr. So wird hinter den Ausschreitungen der Gezi-Park Chaoten 2013 ein Versuch westlicher Einflussnahme vermutet. Noch heikler ist die Kurdenfrage. Im westlichen Wunsch, die Kurden im Kampf gegen den IS zu unterstützen, sehen viele den Versuch, Chaos in der Türkei zu stiften. Die Vermutungen gehen mittlerweile so weit, dass man dem Westen unterstellt, es gehe gar nicht um den Schutz der Kurden vor dem IS, sondern vielmehr um den Aufbau einer anti-türkischen Streitmacht unter falschem Vorwand, um das islamische Erfolgsmodell Türkei zu destabilisieren.
Irakische Sunniten auch sunnitische Kurden aus dem Nordirak blicken zudem gemeinsam mit tiefer Skepsis auf das dank dem US-Einmarsch im Jahre 2003 an die Macht gelangte irakische Zentralregime in Bagdad, das sich durch seine offenkundige Parteinahme für die Schiiten bei gleichzeitiger Marginalisierung der Sunniten den letzten Kredit verspielt hat. Wer den Irak kennt, der weiss, dass Gräueltaten und Unbarmherzigkeit kein Privileg der IS sind, sondern jeweils von allen Konfliktparteien gleichermassen in Anspruch genommen werden. Amnesty International hat letzte Woche in einem Bericht bestätigt, dass schiitische Milizen, welche informell unter der Kontrolle der Regierung in Bagdad stehen, wahllos Sunniten entführen und ermorden. Auch schrieb Martin Bader in der „NZZ“ letzten Montag, wie kurdische Milizen unter den Peshmerga das nordirakische Dorf Shekhan als Rache gegen die Einwohner wegen angeblicher Kollaboration mit dem IS niederbrannten. Brandschatzung, Folter, Vergewaltigung, Entführung und Mord sind Gräueltaten, deren sich offenbar die Bündnispartner des Westens grosszügig bedienen. Was an die Medien gelangt, dürfte zudem nur die Spitze des Eisberges sein. Vor dem Hintergrund verzichten nicht nur wichtige sunnitische Stämme im Irak wie etwa der Dulaim unter Stammesführer Ali Hatem Sulaiman (2006 noch Partner der USA gegen Al-Qaida im Irak) auf Widerstand gegen den IS. Viele Iraker verstehen die Hektik um den IS gar nicht erst oder sehen dahinter einen Versuch, den sunnitischen Aufstand gegen das schiitische Zentralregime unter dem Vorwand des Anti-Terrorkrieges niederzuschlagen.
Tatsächlich zweifeln die meisten Muslime an den Motiven des anti-IS-Kampfes. Sie fragen sich, warum der Westen denn damals 2013 in Syrien nicht genauso entschieden gegen al-Asad eingegriffen hatte, als jener mit Giftgas gegen die Zivilbevölkerung losging. Auch wird oft die Verbindung zum Gaza-Krieg hergestellt, als Israel freie Hand gelassen wurde, Zivileinrichtungen, darunter Spitäler oder gar einen UN-Schule unter Beschuss zu nehmen. Damals habe sich im Westen auch niemand um den Schutz der Menschenrechte geschert. Auch das Schlachten in Zentralafrika oder in Burma bzw. das auffällige westliche Schweigen dazu erscheint vielen suspekt.
Sodann stehen der Islam und die Muslime ja auch noch unter Generalverdacht. Die letzten Wochen waren geprägt von einem wahren Distanzierungsmarathon. Kaum ein muslimischer Verein kam darum herum, sich wenn nicht in vorauseilendem Gehorsam, dann spätestens im direkten Verhör mit einem Lokaljournalisten klar und deutlich vom IS und seinen Taten zu distanzieren – am besten die drei Worte ohne Wenn und Aber: „Wir distanzieren uns“, auszusprechen. Mir ist neben Nicolas Blancho kein weiterer Islam-Vertreter bekannt, der es wagte, sich diesem Zwangsdiskurs zu widersetzen. In seinem Fall machte sich der Mehraufwand bezahlt. Er hatte sich damit die nötige Aufmerksamkeit gesichert, um seiner differenzierten Sicht öffentlichkeitswirksam Ausdruck verleihen zu können. Aber damit bleibt er die mutige Ausnahme unter seinesgleichen. Dabei spielt die heuchlerisch anmutende, diskurs-konforme Meinungsäusserung der allermeisten Muslim-Vertreter auch gar keine Rolle. Weder vermögen jene einen IS-Sympathisanten von seinen Sympathien abzubringen, noch beruhigt sie derentwegen die durch mediales Trommelfeuer in Paniknähe getriebene Otto Normalbevölkerung. Denn auf die Meldung, dass sich dieser oder jener Imam gehörig vom IS distanziert habe, folgt auch bereits – wenn nicht sogar auf der gleichen Seite – die nächste Meldung über einen Jihad-Reisenden aus der Nachbarschaft, den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch des IS in Anbar oder noch schlimmer, der Auftritt eines sogenannten Hasspredigers irgendwo in der Schweiz.
Negative Nachrichten sind gut fürs Geschäft. Die in der Gesellschaft verankerte Islamophobie bietet die passende Folie, vor deren Hintergrund nun auch der IS thematisiert wird. Es ist ja nicht so, dass man erst seit dem Auftreten des IS grundsätzliche Probleme mit dem Islam und den Muslimen hätte. Kopftuch-, Niqab- und Minarettdebatten sprechen eine deutliche Sprache und Brandanschläge auf Moscheen in Deutschland sowie zunehmende verbale und physische Übergriffe gegen muslimische Frauen zeichnen ein klares Bild.
Dass nun auch noch Rechtsextreme und aus den Stadien verbannte Fussballhooligans sich als selbsternannte „Salafistenjäger“ formieren, vermag nicht mehr ernsthaft zu verwundern. Gefährlich ist es indes durchaus, vor allem dann wenn der Staat seine Hausaufgaben nicht macht und es tatsächlich zu Angriffen aus solchen Kreisen kommen sollte.
Und dann das heikle Kapitel zur Repression. Viele Staaten in Mitteleuropa sind gerade dabei, die gesetzliche Schraube gegen IS-Sympathisanten anzuziehen. So soll zukünftig nicht nur bestraft werden, wer sich dem IS anschliesst oder jenen materiell unterstützt, sondern präventive Passentzüge sollen auf blossen Verdacht hin auch die Reisefreiheit mutmasslicher Jihad-Kämpfer einschränken. Dabei übersehen die Politiker in ihrer Hektik, dass sie mit Repression nur in den seltensten Fällen gegen eine politische oder religiöse Überzeugung ankommen. Ein mutmasslicher Jihad-Kämpfer, dem man die Ausreise vorübergehend verwehrt, wird dadurch kaum von seiner Überzeugung abrücken. Vielmehr könnte er erst Recht in seiner Wahrnehmung bestärkt werden. Wenig verwunderlich, wenn er in der Folge sein Feindbild nicht mehr im Tyrann al-Asad, sondern vielleicht in der hiesigen Gesellschaft erblickt. Repression kann nur dort Wirkung entfalten, wo eine Alternative geboten wird. Eine Gesellschaft, die Muslime ausgrenzt, den Islam an sich problematisiert und verhöhnt, keinen Spielraum für die Entwicklung einer integrierten islamischen Identität bietet, wirkt unglaubwürdig – besonders dann, wenn sie dazu noch repressiv auftritt.
Um nun keine falschen Ängste zu wecken, soll gesagt sein, dass die allermeisten Muslime auch in Mitteleuropa sich nicht mit der Lage in Syrien oder dem Irak auseinandersetzen, weder besondere Sympathien für den IS oder seine Gegner empfinden – mindestens bisher nicht. Einfach gesagt: Es interessiert sie nicht oder etwas elaborierter gesagt: Ihnen fehlte bisher ein adäquater Anknüpfungspunkt zur Thematik.
Dies könnte sich allerdings vor dem Hintergrund der überhitzt geführten Debatte in den Medien und teilweise auch schon in der Politik bald ändern. Man fühlt förmlich, wie man zur Stellungnahme verpflichtet wird. Das bisher angewandte simple Schwarz-Weiss Muster ausgedrückt durch die Zauberformel: „Ich distanziere mich“, greift zu kurz. Komplexe Fragen bedürfen gerechterweise komplexer Antworten und es ist nicht vermessen, wie eingangs vorweggenommen zu behaupten, dass der Konflikt für Muslime an Komplexität nur schwer zu überbieten ist.