Als Kinder lernen wir, dass kein Mensch, der die geltenden Regeln und Gesetze befolgt, Furcht vor Einschränkungen oder Sanktionen zu haben braucht. Doch die Lebenswirklichkeit vieler Muslime in der Schweiz lässt vermuten, dass diese Prämisse, die so grundlegend für unser gesellschaftliches Zusammenleben und das Vertrauen in die staatlichen Organe ist, sich in einem Prozess der Auflösung zu befinden scheint.
Von J. Rashidi
Da verhindert eine Aargauer Gemeinde systematisch die Einbürgerung einer seit 12 Jahren in der Schweiz lebenden türkischen Familie, obwohl sie objektiv alle rechtlichen Grundlagen erfüllt, weil die Mutter ein Kopftuch trägt und der Vater aushilfsweise an drei oder vier Freitagen die Predigt in der Moschee übernommen hatte. Einer anderen Familie wurde gar die Wohnung gekündigt, weil sie als praktizierende Muslime nicht mehr in das Welt- und Nachbarschaftsbild des Vermieters – welcher die muslimische Familie, abgesehen von ihrer religiösen Überzeugung aber durchaus „nett“ findet – passten und viele Frauen finden trotz herausragender Qualifikationen keine Arbeitsstelle oder verlieren eine vorhandene, nachdem sie sich der Religion zugewandt haben, aus religiöser Überzeugung ein Kopftuch tragen möchten und sich weigern, es abzunehmen.
Dabei zählt das Tragen des islamischen Kopftuchs zu den durch die Bundesverfassung geschützten Kultushandlungen. Die daraus resultierende Ablehnung oder Entlassung, welche jedoch bei Klage durch das Vorbringen fadenscheiniger Gründe nicht selten durch einen Richterspruch gestützt werden, sind ein Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot.
Angesichts dieser und der jüngsten Ereignisse, welche nicht etwa Einzelfälle, sondern einen flächendeckenden und besorgniserregenden Trend dokumentieren, stellt sich mehr und mehr die Frage, inwieweit unsere schweizerische Rechtsordnung noch den Ansprüchen einer neutralen und unabhängigen Instanz genügt.
Zu nennen wäre hier etwa der Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts, welches einem islamisch orientierten Kindergarten erst kürzlich die Bewilligung verwehrte. Begründet wurde dieser Richterspruch damit, der geplante Unterricht würde mutmasslich keine klare Trennung zwischen profanen und religiösen Inhalten bieten, das Lehren des Koran und der arabischen Sprache sei bedenklich und zudem könne man davon ausgehen, dass diese Institution Dinge vermittle, die nicht der gesellschaftlichen Realität der Schweiz entsprächen, beispielsweise Sex vor der Ehe oder Homosexualität. Gleichzeitig darf sich die jüdische Gemeinschaft Zürichs jedoch glücklich schätzen, unter den gleichen Voraussetzungen, die auch für einen islamischen Kindergarten gelten müssten, selbst einen solchen betreiben zu dürfen, in dem der Hebräisch-Unterricht, das Gebet und die Vermittlung jüdischer Werte als besonders wichtig erachtet werden. Ein Übertritt in die jüdische Grundschule ist gar nur mit Hebräisch-Kenntnissen möglich. Der letzte katholische Kindergarten Zürichs musste zwar per Juli 2015 mangels Interesse seine Türen schliessen, doch auch dieser konnte in den letzten Jahrzehnten mit einer «christlichen Vorschulerziehung», dem Erlernen der «Geschichten von Jesus und Gott» und «den christlichen Bräuchen» werben. Dass beide Institutionen wohl kaum die vom Richter von den Betreibern des islamischen Kindergartens geforderte «liberale» Einstellung bezüglich Homosexualität und vorehelichem Geschlechtsverkehr vertreten, ist gerade angesichts der jüngsten Äusserungen von Bischof Huonder zumindest nicht abwegig.
Im aktuellsten Fall wurde Nicolas Blancho, dem Präsidenten des Islamischen Zentralrats Schweiz, der Waffenerwerbsschein verweigert, obwohl er die dafür geforderten Kriterien allesamt erfüllt. Die Begründung der mit dem Fall beauftragten Behörde war der nicht weiter zu konkretisierende Hinweis auf eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, was angesichts der Tatsache, dass der Islamische Zentralrat offensichtlich – wie sich im Zuge dieser Affäre herausstellte – vom Nachrichtendienst des Bundes überwacht wird doch recht unglaubwürdig erscheint, hätte dieser doch wohl längst auf eine so schwere Gefährdung der inneren Sicherheit reagiert.
Aber «Sicherheitsbedenken» scheinen ganz allgemein zu einem probaten Argument geworden zu sein, Personen, die im vorgegebenen, gesetzlichen Rahmen Gebrauch von ihren in der Verfassung verankerten Rechte – so zum Beispiel die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15) oder die Meinungsfreiheit (Art. 16) – machen, und dabei nicht dem staatlich etablierten Mainstream folgen, einzuschränken. Das Perfide daran ist, dass sich im Namen der Sicherheit die massivsten Einschränkungen des privaten Bereichs auch gesamtgesellschaftlich durchsetzen lassen, ohne allzu grossen Widerstand befürchten zu müssen, wie uns der US-amerikanische «Patriot Act» eindrucksvoll demonstriert.
Im November 2014 wurde die Durchführung der Jahreskonferenz des IZRS verboten, welche zum vierten Mal in einem geschlossenen und abgesicherten Umfeld hätte stattfinden sollen. So kam es letztlich dazu, dass eine öffentliche und bewilligte Ersatzkundgebung unter Polizeischutz beendet werden musste, weil die anwesenden Muslime von einem Grüppchen gewaltbereiter PKK-Sympathisanten bedrängt und sowohl verbal, als auch physisch, angegriffen wurden.
Mit der blossen Verteilung des Koran, einem der meist gelesenen Büchern der Welt, zieht man heutzutage bereits die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes auf sich, während christliche Gruppierungen völlig unbehelligt auch weiter ihre Schriften unter das Volk bringen können und auch die Missionierungsversuche der Zeugen Jehowas an den Haustüren dieses Landes offenbar niemandes Argwohn erregen.
Auch was den praktizierenden Durchschnittsmuslim betrifft, so musste der ein oder andere wohl bereits feststellen, dass auch seine nach aussen hin sichtbare Religionszugehörigkeit allein schon ausreichen kann, am Flughafen festgehalten oder im besonderen Masse überprüft zu werden. Zwar sind wir (noch) nicht soweit wie unser nördlicher Nachbar, der nun bereits auf einen Verdacht hin Muslimen – und nur Muslimen – den Reisepass entziehen kann. Inwiefern lässt sich nun jedoch das Gebaren der hiesigen Behörden mit dem in Art. 9 der Bundesverfassung festgehaltenen Schutz vor Willkür oder der im Artikel 8 beschriebene Rechtsgleichheit und dem Verbot von Diskriminierung vereinbaren? Ich nehme an, auch hier würden die bereits bekannten Sicherheitsbedenken geltend gemacht werden.
Es wäre wohl vermessen, aus diesen öffentlichen Ereignissen und den persönlichen Erfahrungen vieler Muslime und anderer schutzbedürftiger Minderheiten hierzulande eine Prognose zu erstellen, doch ist es in jedem Fall nachvollziehbar, wenn der eine oder andere sich berechtigterweise die Frage stellt, ob das Recht für ihn in gleichem Masse gilt, wie für seinen Nachbarn und ob es tatsächlich sein kann, dass er sich entscheiden muss zwischen seiner religiösen Überzeugung und seinen Rechten, wo sie doch beiden zu den in der Verfassung garantierten Freiheiten gehören.
Vielleicht ist es an der Zeit, nicht die Rechtsinhalte oder das -system, aber den Weg, den wir durch unseren Umgang mit ihm und seiner Implementierung eingeschlagen haben, zu überdenken.