Morgen Samstag publiziert der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) das knapp vierzig minütige Exklusiv-Interview «Der Islamische Staat und ich» mit Dr. Abd Allah al-Muhaysini, dem geistigen Führer des islamischen Rebellenbündnisses Jaysh al-Fath in Nord-Westsyrien. Im Vorfeld der Veröffentlichung sprachen wir mit IZRS-Präsident Nicolas Blancho über die aktuelle Situation in Syrien, das Engagement des IZRS und die Überlegungen, die dazu geführt haben, ein Interview mit al-Muhaysini zu führen.
Von M.R.
Herr Blancho, in Syrien kämpfen heute neben dem Asad-Regime Russen, Iraner, der Hizb Allah, Amerikaner, die FSA, islamische Rebellengruppen, der IS und kurdische Sozialisten. Wer hat da noch den Überblick?
Was auf den ersten Blick sehr verworren scheint, ergibt bei genauerer Betrachtung durchaus Sinn. Auf der einen Seite haben wir al-Asads Regime, welches seine langjährigen ideologischen Bündnispartner Hizb Allah, Iran und Russland der Reihe nach eingeladen hat, seine Truppen logistisch und militärisch zu unterstützen. Auf der anderen Seite steht das syrische Volk, welches sich seit 2011 zunächst friedlich, dann bewaffnet gegen den Asad-Clan aufzulehnen begann. Kommt es zu einem bewaffneten Volksaufstand gegen ein Regime, einen sich politisch oder ideologisch divergente Positionen nicht auf wundersame Weise zu einem homogenen Block. Es ist nur natürlich, dass es zu einer Diversifikation entlang von Gruppen und Bündnissen auch in Zeiten des bewaffneten Kampfs kommt. In Syrien ist die Lage jedoch vergleichsweise übersichtlich. Zum einen haben wir die eher säkular ausgerichtete FSA, welche zahlreiche kleinere lokale Kampfgruppen vereint. Daneben gibt es die Jabha Islâmiyya unter der Schirmherrschaft der Ahrâr ash-Shâm, welche eine klar islamische, jedoch lokal syrische Zielrichtung verfolgt. Davon abgespalten unter der Schirmherrschaft der Liwâ‘ at-Tawhîd gibt es seit knapp einem Jahr die im Norden erstarkte Jabha Shâmiyya. Die ideologische Abgrenzung zur Jabha Islâmiyya ist in vielen Punkten unklar. Offensichtlich erhält die Jabhat Shâmiyya jedoch kräftig ausländische Unterstützung. Etwas abgesondert steht die Jaysh al-Islâm von Zahrân ‚Alloush. Operativ ist sie eher marginal vertreten, medial hat sie sich in der Vergangenheit dagegen stark positioniert. Sie gilt als Interessensvertreterin der Saudis, worauf u.a. die langjährigen Beziehungen der ‚Alloush-Familie zum Königreich hindeuten. Neu, jedoch seit diesem Jahr sehr einflussreich, ist der lose Rebellenverband Jaysh al-Fath. Er gilt militärisch als derzeit erfolgreichstes Bündnis. Auf sein Konto geht die Befreiung praktisch der ganzen Provinz Idlib im letzten Frühjahr.
Im Osten Syriens hat sich seit Anfang 2014 der IS eingenistet. Sein exklusives Verhalten hat ihn unter allen anderen Rebellengruppen zunächst unbeliebt und mittlerweile zum entschiedenen Feind gemacht. Sie alle lehnen seine Methode und Praxis ab und werfen ihm vor, eine kharijitische Ideologie zu vertreten.
Im Norden versuchen die sozialistischen Kurden der YPG unterstützt von den USA weiter an Boden zu gewinnen. Sie kämpfen dem IS seit dessen Angriff auf die nördliche Grenzstadt Kobane Gebiet um Gebiet ab, was die übrigen Rebellengruppen im Westen mit grosser Besorgnis zur Kenntnis nehmen. Besorgt nicht um den IS, sondern um die an die sozialistischen Kurden verlorenen arabisch-sunnitischen Stammlanden.
Man liest oft Kommentare wie: «Ach, da kämpfen doch alle gegen alle in Syrien. Was soll das überhaupt noch bringen?»
Wer die Situation genauer betrachtet, weiss, dass die Feindeslinien in Syrien sehr klar abgesteckt sind. Gerade der Alleingang des IS und dessen aggressives Gebaren gegenüber allen anderen Rebellengruppen hat jene zur Einsicht gebracht, dass sie nur zusammen und nicht gegeneinander Asad und seine ausländischen Söldner bezwingen können.
Die stark anwachsenden Flüchtlingsströme sprechen aber eine andere Sprache…
Hier muss man unterscheiden zwischen Rebellen und der Zivilbevölkerung. Wer in Syrien aus welchen Gründen auch immer nicht in einer Rebellengruppe oder als Nothelfer aktiv ist, hat derzeit wirklich keinen Grund, dort sein Leben zu fristen. Täglich fallen unberechenbare Fassbomben auf Grossstädte wie Aleppo oder Duma und seit Oktober haben auch die Russen noch begonnen, ihre Bomben u.a. auf zivile Ziele abzuwerfen.
Fehlen durch diese grossen Fluchtbewegungen den Rebellen nicht die Kämpfer?
Bei den Zurückgebliebenen herrscht natürlich Unmut gegenüber den Geflohenen. Sie werfen ihnen vor, ihre Pflicht zu vernachlässigen und die Gunst der Stunde für eine vielleicht langersehnte Auswanderung nach Europa zu ergreifen. Unter dem Strich verbleiben aber auf Seiten der Rebellen anders als in Asads Armee weiterhin genügend Kampfwillige. Vergessen wir nicht, dass viele der Flüchtlinge auch aus den Reihen der Alawiten stammen und damit eher dem Regime den Rücken kehren als den Rebellen.
Sie sprechen das Thema der Nothilfe an. Wären nicht viel weniger Menschen auf der Flucht, wenn vor Ort mehr Nothilfe geleistet würde, anstatt nun die Symptombekämpfung des Phänomens nach Europa zu verlegen?
Ich bin mir sicher, dass viele europäische Entscheidungsträger dies genau so sehen. Nur muss man wissen, dass mit Nothilfe vor Ort niemand davon abgehalten wird, die Flucht zu ergreifen. Die meisten Menschen fliehen ja vor den Fassbomben des Asad Regimes und dagegen nützen ein paar warme Decken oder Babynahrung nicht sonderlich viel. Der Westen hatte es nach den Giftgas Angriffen des Regimes in Ghoutha nahe Damaskus im August 2013 verpasst, eine Flugverbotszone über Syrien zu erzwingen. Damit hätte er vielleicht dieses Flüchtlingschaos verhindern können.
Sie wären also für eine westliche Intervention in Syrien?
Ich spreche aus der westlichen Perspektive und versuche aufzuzeigen, wie ein derartiges Flüchtlingschaos eventuell hätte abgewendet werden können. Freilich bin ich gegen jede direkte westliche Intervention. In Syrien werden innerislamische Konflikte ausgetragen und entsprechend müssen sie auch innerhalb des islamischen Spektrums gelöst werden. Der Westen weiss natürlich, dass die überwiegende Mehrheit der syrischen Rebellen nach dem Sturz des Asad Regimes ein islamisches Gesellschaftsmodell anstrebt. Das widerstrebt ihm und so schaut er auch heute tatenlos zu, wenn Asad und seine Verbündeten mit Streu- und Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung vorgehen.
Auch der IZRS hat seit 2013 mehrere Hilfsaktionen in Syrien durchgeführt. Ein Tropfen auf den heissen Stein?
Ja definitiv. Mehr als das können wir als vergleichsweise kleine Organisation auch nicht bewirken. Aber vergessen wir nicht: Wenn Muslime weltweit mit anpacken und ihren bedürftigen Geschwistern mittels Spenden und Sachlieferungen helfen, dann höhlen die vielen Tropfen den Stein irgendwann. Diese Allegorie vor Augen, möchte ich dazu motivieren, die islamische Nothilfe weiterhin zu unterstützen und weiter auszubauen. Vergessen wir nicht, dass auch christliche Missionare oder säkularistisch ausgerichtete Organisationen versuchen in diesem Bereich Fuss zu fassen. Wenn wir nicht helfen, dann tun sie es.
Welche Form der Hilfe ist denn derzeit besonders gefragt?
Bei unserer letzten Delegationsreise haben wir in Erfahrung bringen können, dass derweil neben den üblichen Alltagsgütern vor allem das Bildungswesen wiederaufgebaut werden soll. Stellen Sie sich vor, in gewissen Gebieten namentlich in grossen Teilen Aleppos gehen die Kinder seit gut vier Jahren nicht mehr regelmässig zur Schule. Das hinterlässt in einer Gesellschaft tiefe Narben. Deshalb arbeiten nun Hilfsorganisationen in enger Zusammenarbeit mit den neuen Statthaltern daran, das Bildungswesen wieder in Betrieb zu nehmen. Es geht also vor allem um Lehrergehälter und Lehrbücher sowie Schuluniformen für die Kinder, welche beschafft werden müssen. Ich kann mir vorstellen, dass wir uns in diesem Bereich zukünftig stärker engagieren werden.
Nun hat Ihre Delegation auf der letzten Reise im Oktober in Syrien Kurban-Schafe verteilt, jedoch nicht nur…
Die Kurban-Aktion war wirklich sehr gut angekommen. 237 Schafe konnten über zwei Tage hinweg geschlachtet und deren Fleisch an Bedürftige im Umland von Idlib verteilt werden. Danach war diese Mission abgeschlossen. Naim Cherni und seine Begleiter nutzten die verbleibenden Tage, um sich in den befreiten Gebieten Westsyriens ein Bild der aktuellen Lage zu machen. Sie besuchten u.a. Nordaleppo, wo die Rebellen ihre Stellungen gegen den IS verteidigen, erlebten hautnah wie die sozialistischen Kurden aus dem Aleppoer Stadtteil Shaykh Maqsûd die Zufahrtsstrasse zur Metropole unter Beschuss nahmen oder verbrachten bange Stunden im Freien, als die Russen das Umland Idlibs zu bombardieren begannen. Ich bin schon froh, dass sie unversehrt zurückgekehrt sind.
Besteht nicht ein hohes Risiko für Leib und Leben Ihrer Leute auf solchen Rundfahrten?
Sehen Sie, auch in Syrien gibt es verschiedene Stufen des Risikos. Natürlich muss man immer damit rechnen, dass man sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält und bei einem der zahlreichen Luftangriffe in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber auf der anderen Seite kann man den wirklich gefährlichen Momenten natürlich auch gezielt aus dem Weg gehen. Es liegt jeweils im Ermessen des Delegationsleiters, ob der eine oder andere Ort zu meiden sei.
Weshalb besuchen Ihre Delegierten diese Gebiete?
Uns ist es wichtig, zu verstehen, was in der islamischen Welt passiert. Ich erinnere daran, dass wir nicht nur nach Syrien, sondern auch schon nach Burma, Ägypten oder Palästina oder China Missionen entsandt hatten, um uns einen Überblick über die Situation vor Ort zu verschaffen. Die dadurch gewonnen Informationen teilen wir mit unseren Partnerorganisationen wie etwa der European Muslims League (EML) oder der Association of Muslim Scholars (AMS), um zusammen herauszuarbeiten, auf welche Weise wir unsere Geschwister am besten unterstützen können.
Reicht es denn nicht, wenn man die Zeitungen genau liest?
Gerade in Syrien stellen wir oft fest, dass die europäischen Medien immer ein paar Schritte hinterher hinken. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als wir unsere ersten Hilfsaktionen in der Provinz Raqqa und Deir e Zour 2013 durchführten, wussten wir bereits sehr gut Bescheid über die Denkweise des IS. Unsere Leute wurden mehrmals von IS-Leuten vorübergehend an der Arbeit gehindert. Als der IS dann sein wahres Gesicht zeigte, alle anderen Rebellengruppen zu Apostaten erklärte und die Gebiete nord-östlich des Euphrats an sich riss, mussten wir unsere Hilfsaktionen umgehend einstellen. Die europäischen Medien berichteten damals noch nicht über den IS. Erst als jener 2014 Mosul einnahm, geriet er auf den Radar der westlichen Presse. Vergleichbares ereignete sich diesen Oktober, als die Russen mit ihren angeblich präzisen Luftschlägen gegen den IS begannen. Unsere Leute, die gerade in Idlib zugegen waren, erlebten diese ersten Angriffe hautnah. Allesamt auf Ziele in einem Gebiet, wo es weit und breit keine IS-Präsenz gab und zudem oft auf zivile Einrichtungen. In Jisr Shughûr etwa konnte die zerbombte Omar ibn al-Khattab Moschee unmittelbar nach dem Angriff besucht werden. Da gab es weit und breit keinen IS und auch keine anderen Rebellen. Die Medien berichten erst in diesen Tagen über die mangelnde Präzision der russischen Luftschläge. Wir wissen das schon seit knapp einem Monat.
Am kommenden Samstag publiziert der IZRS ein exklusives Interview mit Dr. Abdallah al-Muhaysini. Wer ist dieser Mann?
Al-Muhaysini ist eine zentrale Brückenbauerfigur unter den Rebellen. Man sagt: Wenn es zwischen zwei Rebellengruppen brennt, dann ruft al-Muhaysini. Dieser saudische Gelehrte hat einen unglaublich wichtigen Einfluss auf die koordinierte Zusammenarbeit der Rebellen. Der IS möchte ihn unbedingt beseitigen, weil es ihm gelungen ist, ein fragiles aber dennoch funktionsfähiges Mantra der Einheit zu erzeugen. Ausserdem ist er eine wichtige Stimme der innerislamischen Mässigung. Er hat sich schon sehr früh stark gegen den theologischen Extremismus des IS aufgelehnt, nachdem er in mehreren Versuchen gescheitert war, sie zur Vernunft zu bringen. Er ist kein Mann, der einfach am Schreibtisch sitzt und die Drecksarbeit den anderen überlässt. Stets ist er bemüht, mit allen Parteien den Kontakt zu pflegen mit dem Ziel, den Kampf in Syrien gegen das Asad Regime und heute auch gegen den IS entschieden zu führen und sich nicht im Detail zu verlieren.
Die hiesigen Medien werden ihn einen «Jihadisten» nennen…
Das kann ich mir gut vorstellen. Wie dies schon der verstorbene Medienwissenschaftler Kurt Imhof wieder und wieder betonte: Vielen Journalisten fehlt heute das nötige religiöse Grundwissen im Allgemeinen und Wissen über den Islam im Besonderen. Eine solche Darstellung wäre typisch für die oberflächliche Herangehensweise an Themen rund um den Islam und wenig zielführend. In Syrien sind alle Oppositionellen in irgendeiner Weise «Jihadisten». Die USA unterscheiden ja nicht erst seit Syrien zwischen «guten und bösen Mujâhidîn». Wir müssen uns zwei Fragen stellen: Was ist die Zielrichtung al-Muhaysinis und zweitens stellt er eine direkte Gefahr für den Westen dar? Ersteres hat er mehrfach klar gemacht: Er kämpft zugunsten der vom Asad Regime unterdrückten Syrer. Sie sollen in Zukunft in Freiheit und Ehre leben können. Natürlich ist al-Muhaysinis Freiheitsbegriff kein westlicher, sondern ein islamischer. Er hat sich in der Vergangenheit gegen die Unterdrückung von Minderheiten ausgesprochen und plädiert stets für Milde im Umgang etwa mit Kriegsgefangenen. Vor allem aber ist er wohl die Autorität im Kampf gegen die IS-Ideologie. Und das macht ihn für uns Muslime und sekundär wohl auch für den Westen interessant.
Wie kam das Interview zustande?
Das ist total speziell. Wir hatten es gar nicht geplant. Als unsere Delegation vor Ort war, und sich über die Lage an der Front zum IS informierte, hat er wohl davon Wind bekommen und liess ausrichten, dass er sich bei Interesse gerne höchstpersönlich zum Thema äussern würde. Solch eine Gelegenheit bietet sich nicht alle Tage, dachte sich die Delegation und wollte gleich ein Treffen vereinbaren. Doch so einfach ging es dann doch nicht. Al-Muhaysini ist sehr auf seine Sicherheit bedacht. Nicht nur der IS hat schon mehrmals versucht, ihn mittels Selbstmordattentäter zur Strecke zu bringen, sondern auch Asad und die Russen dürften hinter ihm her sein. So musste die Delegation einige Tage zuwarten, bis es unvermittelt hiess, der Doktor sein nun bereit. Dann freilich hatte alles schnell zu gehen, schliesslich bestanden seine persönlichen Sicherheitsleute darauf, dass er sich nicht mehr als 1-2 Stunden am selben Ort aufhält.
Klingt spannend! Waren Ihre Leute nervös?
Davon gehe ich aus. Herr Cherni wird bei späterer Gelegenheit dazu noch ausführlich berichten. Jetzt steht erstmal das Interview im Vordergrund. Ich erhoffe mir davon eine innerislamische Reflexion über die Ideologie des IS, die Abgrenzung zwischen legitimem Jihâd gegen einen grausamen Tyrannen und blutigem Extremismus.
Das Interview von Naim Cherni mit Dr. Abd Allah al-Muhaysini wird am Samstag, 14.11.2015 um 20:00 Uhr MET auf den sozialen Medien des IZRS veröffentlicht.
Update: Aufgrund der Ereignisse in Paris hat der Pressedienst des Islamischen Zentralrates die Ausstrahlung bis auf weiteres verschoben. Weitere Infos hier.
Update II: Der neue Publikationstermin ist auf Freitag, 20.11.2015 um 20:00 Uhr festgelegt worden.