Bern, 04.10.2010
Von Abdel Azziz Qaasim Illi
Geert Wilders vielbeachteter Auftritt in Berlin löste in politischen Kreisen erstaunlich wenig Bedenken aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel bemühte sich als bisher einzige europäische Regierungschefin, die kurz vor dem Berliner Vortrag bekannt gewordene partiale Machtergreifung seiner Partei in den Niederlanden zu bedauern. Typisch ist die Ruhe auf den Fluren der europäischen Diplomatie keineswegs. Man erinnere sich zurück: Im Jahr 2000 gelang Jörg Haiders FPÖ bei den Parlamentswahlen ein erdrutschartiger Ausbau ihres Wähleranteils, worauf sie in die neue Regierung einziehen konnte. Europa reagierte prompt und scharf. Die EU fror die bilateralen Beziehungen ein und setzte Österreich mit einem beispiellosen politischen Boykott auch wirtschaftlich unter Druck. Damals Aussenministerin Ferrero-Waldner wurde in Brüssel zur Unperson. Vor welchen Gremien sie auch auftrat, lichteten sich die Ränge. Haiders Rücktritt als FPÖ-Parteichef brachte auch keine Entspannung. Das Problem sei nicht nur die Person Haider, sondern die Ideologie der Partei und überhaupt wollte man damit ein Zeichen setzen, dass in Europa kein Platz für Rassismus und neonazistisches Gedankengut sei. Joschka Fischer rechtfertigte die harsche Reaktion. Europa sei eine «Wertegemeinschaft», die es nicht zulassen dürfe, wenn ein Mitglied prinzipielle Kernwerte durch die Wahl einer rechtsextremen Partei in Frage stelle.
Mitte September 2010 traf Joschka Fischer im Rahmen einer Podiumsdiskussion über die Zukunft – und Vergangenheit Europas mit dem ehemaligen ÖVP Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zusammen. Auf den politischen Boykott angesprochen, machte Fischer eine Kehrtwende: «Man würde es heute so nicht mehr machen. Aber das Problem bleibt dennoch. Nämlich: Wo ist der Punkt, wo Parteien mit zweifelhafter demokratischer Provenienz noch akzeptabel sind.»
Und tatsächlich. Europa hat sich an sein rechtes Abdriften gewöhnt. Kanzlerin Merkel steht mit ihrer Kritik an Wilders Regierungsbeteiligung alleine auf weiter Flur. Der neue europäische Rechtspopulismus bringt sich praktisch ohne nennenswerte Widerstände in Stellung. Wohlweislich verzichten seine Repräsentanten auf die bei Haider noch gefürchteten antisemitischen Ausbrüche. Die einst mobilisierende Kraft antisemitischer Propaganda erfährt dafür in unserer Zeit in Gestalt der Islamophobie eine virulente Renaissance. Islamfeindlichkeit komme aus der politischen Mitte, referierte Wilders in Berlin – ein deutlicher Versuch auch auf Ebene des Diskursiven die Ablehnung des Islamischen zur Norm zu führen.
Dass ausgerechnet Holland, ein Land, das nicht erst in der Moderne für seine tolerante Haltung gegenüber allen möglichen Religionen, Lebensstilen und Werten Aufmerksamkeit auf sich zog, sollte zu Denken geben. In den 1850er Jahren verzichtete es auf einen Handelvertrag mit der Schweiz, weil sich die Eidgenossen noch nicht zur staatsbürgerlichen Gleichstellung der ansässigen Juden durchringen konnten und erzwang mit seiner hartnäckigen Haltung – freilich zusammen mit der Grossmacht Frankreich und den USA letztlich ein Einlenken in der Judenfrage. Ein Land, das «leichte Drogen» schon seit Jahrzehnten aus dem Betäubungsmittelgesetz gestrichen hat und bereits 2001 gleichgeschlechtliche Ehen zuliess – ausgerechnet dieses Land paradigmatisiert nun erstmals in der modernen Geschichte Islamophobe als Strukturmerkmal seiner Politik.