An dieser Stelle möchten wir unser Drei-Stufen-Modell für „die Entwicklung Islam in der Schweiz“ vorstellen. Um die Notwendigkeit der proaktiven Entwicklung unserer Religionsgemeinschaft in der Schweiz zu verdeutlichen, soll zunächst der aktuelle Ist-Zustand kurz zusammengefasst werden.
Aktueller Ist-Zustand
Aktuell sind die Schweizer Muslime, verglichen mit dem nördlichen und westlichen Europa, schwach bis gar nicht organisiert. Organisiert sind in der Schweiz bestenfalls die Moscheen und Vereine, nicht aber Individuen. Die Integration Schweizer Moscheen in Dachverbände bringt freilich grossen Nutzen auf der Ebene der Koordination von Institutionen, jedoch auch Nachteile, z.B. bei der Frage der Repräsentation, der Nähe zur muslimischen Basis und bei der Koordination laufender Aktivitäten.
Heute sind die meisten durchschnittlichen Moscheegänger nicht Mitglied im Trägerverein der Moschee, die sie besuchen. Zwar lassen einige regelmässig finanzielle Zuwendungen an den Trägerverein fliessen, um die Miete und weitere laufende Kosten zu begleichen, haben jedoch keinerlei Verbindung zur Administration. Noch abstrakter wird das Bild, wenn man die Frage nach der Realrepräsentation eines solchen Moscheegängers durch einen Dachverband aufwirft.
Das Fehlen einer nationalen islamischen Basisorganisation, die eben explizit und zu allererst Individuen unabhängig ihrer ethnischen oder sprachlichen Herkunft auf der gemeinsamen Basis der islamischen Normativität (iN) vereint, dürfte mitunter dafür verantwortlich sein, dass die Schweizer Muslime im Vergleich zum europäischen Ausland als schwach organisiert gelten. In diese Lücke schiebt sich nun mit dem Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS) eine neue, dynamische Organisation, deren erklärtes Ziel es ist, zukünftig die Mehrheit der praktizierenden Muslime institutionell zu vereinigen und gegen aussen zu vertreten.
Das neue Modell bietet sowohl den Muslimen, wie auch der Öffentlichkeit einige Vorteile. Jeder Muslim hat durch seinen Beitritt direkt die Möglichkeit dem IZRS als Repräsentanten des sunnitischen Islams in der Schweiz Legitimität zu verleihen. Ausserdem kann er seine persönliche Meinung jederzeit durch eine Petition an den Vorstand oder durch ein Referat im Rahmen der jährlichen Mitgliederversammlung direkt kundtun. Die Basisnähe ist uns ein grosses Anliegen. Ganz dem Beispiel des Propheten Muhammad (saws) folgend, muss die Zugänglichkeit zum Vereinspräsidenten für alle Mitglieder eine immerwährende Selbstverständlichkeit bleiben. Damit wird der Vorstand an die Basis gebunden, was unser Modell langfristig auch für staatliche Institutionen interessant machen dürfte.
Das Drei-Stufen-Modell für „die Entwicklung Islam in der Schweiz“
I. Aufbau von Legitimität
In der ersten Stufe geht es um die Legitimation des Islamischen Zentralrats Schweiz (IZRS). Die Legitimität eines Islam-Repräsentanten kann sich nur in Relation zur Anzahl seiner eingeschriebenen Mitglieder messen. Aktuell schätzen wir das mögliche Potential aller regelmässigen Moscheegänger in der Schweiz auf ca. 50’000 Personen. Zurzeit leben in der Schweiz gegen die 450’000 Personen mit muslimischem Hintergrund. Die Zahl darf keinesfalls als monolithische Entität „Islam“ aufgefasst werden. Die grosse Mehrheit der in der Schweiz lebenden Muslime stammt nicht aus den islamisch-arabischen Kernlanden, sondern aus peripheren Gebieten, wie dem Balkan. In solchen Gebieten wurde und wird der Islam in viel geringerem Ausmass normativ gelesen und praktiziert. Hier überwiegen eindeutig kulturelle Einflüsse, die zumeist auch als primäre Kategorie bei der Identitätsbildung von Bedeutung sind. Personen, bei denen nicht das Religiöse mitunter stark identitätsstiftend wirkt, erachten eine religiöse Repräsentation oftmals als unnötig. Sie identifizieren sich wohl eher mit ihrer Herkunft, Arbeit oder politischen Ausrichtung – lassen sich keinesfalls in einer einzigen Kategorie zusammenfassen. So bleibt die Vereinigung aller 450’000 Personen mit muslimischem Hintergrund in einer Organisation höchstens ein utopisches Wunschziel. Dagegen ist es durchaus realistisch, Personen zu sammeln, die sich in der Kategorie der islamischen Normativität (iN) wieder finden.
In dieser ersten Phase konzentriert sich der IZRS neben seinen Tagesgeschäften zunächst auf die Gewinnung neuer Mitglieder. Dies wird durch Präsentation unserer Ideen in den Moscheen, durch Erklärung unserer Ziele auf Konferenzen und in der Öffentlichkeit betrieben.
II. Institutionalisierung des Islams in der Schweiz (ab Ende 2011 – 2015)
Dar al-ifta’
In der zweiten Stufe geht es darum, dass der Islam in der Schweiz einen institutionellen Rahmen erhält. Dazu benötigen Muslime eine anerkannte, theologische Instanz zur Behandlung islamischer Fragen, die sich nicht unmittelbar aus der Normativität herleiten lassen oder empirische Beobachtungen, wie im Falle der Sichtung des Neumondes bei Ramadanbeginn oder –ende erfordern. Wie bereits heute in allen muslimischen und den meisten europäischen Ländern, soll es auch in der Schweiz ein dar al-ifta’ (Fatwa Rat) geben, der sich unserer Vorstellung nach aus einer ungeraden Anzahl islamischer Gelehrter zusammensetzen, die idealerweise aus differenten ethnischen Kontexten stammen und alle anerkannten islamischen Rechtsschulen repräsentieren. Jedes Ratsmitglied soll einen festen Bezug zur Schweiz haben, insbesondere eine Landessprache sprechen und neben fundierter Kenntnis des politischen Systems auch ein Verständnis für die kulturellen Eigenheiten der Schweizer mitbringen.
Eine Fatwa ist per Definition nicht mehr als ein Rechtsgutachten, das weder zwingende legislative Wirkung beanspruchen kann, noch mit der bestehenden Gesetzesordnung konkurriert. So erstellen z.B. auch Schweizer Rechtsprofessoren Gutachten zu aktuellen Fragen. Ob Inhalte aus einem solchen Gutachten jemals Gesetzeskraft erlangen, hängt in einem demokratischen System von der gesellschaftlichen Debatte ab. Ähnlich verhält es sich mit islamischen Gutachten. Sie geben lediglich die fundierte Lehrmeinung eines oder mehrerer Gelehrten wieder. Ob der Muslim einer solchen Lehrmeinung Folge leistet oder sich einer anderen qualifizierten Lehrmeinung anschliesst, bleibt seiner individuellen Entscheidung überlassen.
Islamische Schulen
Nichts prägt die Entwicklung eines Menschen mehr, als seine Schuljahre. In dieser Zeit der formation wird den Kindern u.a. auch ein grundlegendes moralisches Gerüst vermittelt. Es liegt in der Natur der Moral, dass sie entsprechend dem religiösen oder kulturellen Kontext aus differenten Normen oder Traditionen abgeleitet wird. Nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch zwischen einzelnen Denominationen des Christentums herrschen z.T. erheblich unterschiedliche moralische Auffassungen (vgl. Zölibat). Dies darf nicht als absoluter Relativismus gegenüber allen universalethischen Grundsätzen aufgefasst werden. Es lässt sich nicht leugnen, dass eine Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn unter allen Gemeinschaften Konsens über die Existenz einer solchen Universalethik* besteht. Indes gibt es jedoch viel Zwischenraum für gesunde Differenz. Diese Lücken vermag eine christlich geprägte Staatsschule für einen Juden oder einen Muslim nicht völlig zu schliessen.
Ausserdem tendiert der Säkularisierungsdiskurs dahin, alles Religiöse aus den Staatsschulen zu verbannen. Das jüngste Strassburger Urteil zu den Kruzifixen ist nur eines vieler prominenter Beispiele. Für eine Gemeinschaft, die nicht bereit ist, ihre religiöse Observanz einer neuen Säkularisierungswelle zu opfern, bleibt nur der Ausweg, eigene Schulen zu etablieren. In der Schweiz gibt es gegenwärtig jüdische und katholische Schulen, jedoch keine islamischen. Dies soll sich in Zukunft ändern. Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) hat sich zum Ziel gesetzt, ein Projekt für den Aufbau einer islamischen Primar- und Oberstufenschule zu leiten. Bezüglich des klassischen Lehrplans unterscheidet sich eine islamische Schule nicht von der Staatsschule. Vielmehr zeichnet sich das Projekt durch Ergänzungen wie Islamunterricht, Arabisch und Stützunterrichte für Kinder mit Defiziten in der Landessprache aus.
Föderalisierung des Islamischen Zentralrats
In der ersten Phase richtet sich der IZRS zu Gunsten einer straffen und effizienten Koordination der Aktivitäten stark auf das politische Zentrum Bern aus. Die Zentralverwaltung der Organisation dürfte auch zukünftig von Bern aus agieren. Das von Vielfalt geprägte politische System der Schweiz verlangt jedoch, dass wir uns langfristig zu föderalisieren beginnen. Konkret sollen dem Zentralverein in Bern kantonale Sektionen unterstellt werden, die ihrerseits für das operative Geschäft in den Kantonen und Gemeinden zuständig sind. Der Aufbau der Sektionen verläuft seriell, entsprechend der Verfügbarkeit von Ressourcen in den Kantonen.
III. Verankerung des Islams in der Schweiz
Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) ist bemüht, Muslimen beim Entwickeln eines „islamischen Selbstverständnisses in der Schweizer Gesellschaft“ aktiv beizustehen. Damit meinen wir die Förderung eines aktiven Prozesses der Identitätsbildung als „Schweizer Muslime“. Ein solcher Prozess findet z.B. in England schon seit Jahren ziemlich erfolgreich statt. Voraussetzung ist die straffe Organisation hiesiger praktizierender Muslime sowie eine permanente intellektuelle Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage auf Konferenzen und in Seminaren.
Der IZRS soll den hier lebenden Muslimen zunächst einmal diese Organisationsplattform bieten. Unter seinem Schirm und mittels seiner Aktivitäten soll die bisher stark vernachlässigte Identitätsfrage unablässig diskutiert werden. In diesem Sinne leisten wir einen wertvollen Beitrag zur Integration muslimischer Immigranten.
Öffentlich-rechtliche Anerkennung als Fernziel
Hat die institutionelle Verankerung des Islams in der Schweiz einst unter grösstmöglichem Konsens stattgefunden, kann und muss die Frage der öffentlich-rechtlichen Anerkennung des Islams in den Kantonen neu diskutiert werden. Obwohl Sache der Kantone, empfiehlt es sich doch, die Etablierung schweizweit einheitlicher Strukturen abzuwarten, um dann nach dem Modell der reformierten und katholischen Landeskirchen in den Kantonen paradigmatisch der Reihe nach das islamische „Landesmoscheenmodell“ zu implementieren. Unkoordinierte Alleingänge in den einzelnen Kantonen lehnen wir als unpraktisch ab. Bezüglich einer nationalen Integration einheitlicher Strukturen erscheint uns dieser Weg eher hinderlich und ineffizient.
Bern, 12. Safar 1431 / 28.1.2010
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*Universalethik: Freilich verstehen wir darunter nicht ein eindimensional, eurozentrisch definiertes Konstrukt. Gemeint sind vielmehr ethische Grundsätze, die zu einem gegebenen Zeitpunkt auf in allen Kulturen als valide anerkannt werden. Bsp. Du sollst nicht töten, ohne Recht.