Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) nimmt das deutliche Votum der Tessiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für ein Verbot des islamischen Gesichtsschleiers mit grossem Bedauern zur Kenntnis und warnt vor einer «Islamophobisierung der Schweiz» von unten.
Kommuniqué 22092013-0077
Islamophobie auf dem Vormarsch
Er wertet es als neuerlichen lautstarken Ausdruck einer zunehmend breitangelegten gesellschaftlichen Islamophobie. Der Rat sieht das populistische Begehren als Teil in einer Kette von Versuchen, Muslimen das Leben in der Schweiz zunehmend unangenehm zu gestalten und islamische Elemente aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Namentlich weckt das Resultat Erinnerungen an die Annahme der eidgenössischen Anti-Minarett-Initiative vom 29. November 2009. Bereits damals legten die Tessinerinnen und Tessiner mit 68.1% Ja-Stimmen ein deutliches Votum der Ablehnung ihrer knapp 2% ansässigen Muslime in die Urne, und dies obwohl es im Kanton kein einziges Minarett gab.
Die Tatsache, dass nun erneut ein inhaltlich unnötiges wie unausgereiftes Volksbegehren des Rechtspopulisten Giorgio Ghiringhelli auf derart breite Zustimmung stösst, zeigt wie weit die islamophobe Grundtendenz bereits ins Innere der Gesellschaft diffundiert ist.
[Video: Nora Illi spricht an der Pressekonferenz vom 18.09.2013]
Initiative verstösst gegen übergeordnetes Recht
Die Initiative schafft für den Kanton Tessin nun eine Reihe von Problemen. So schränkt sie verfassungsmässige Grundrechte der Musliminnen ein, ohne dass es dafür eine zwingende Notwendigkeit oder eine nationale gesetzliche Grundlage gäbe. Auch ein Entscheid des EMRG im Falle einer in Frankreich gebüssten Muslimin steht noch aus.
Zudem bezweifelt der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) die Umsetzbarkeit der Initiative. Was genau gilt als Gesichtsschleier und wie sollten Gesetzeshüter reagieren, wenn eine muslimische Frau mit Kopftuch eine Hygiene-Maske trägt oder im Winter den Schal übers Gesichts zieht?
Unabhängig davon, dass es wahrscheinlich keine einzige im Tessin dauerhaft niedergelassene Muslimin gibt, die einen Gesichtsschleier trägt, rechnet der IZRS mit einer umfänglichen juristischen Auseinandersetzung, sollten die Behörden etwa eine Busse gegen eine Touristin verhängen.
Keine Sonderbehandlung für Touristinnen
Sollte der Verfassungsartikel widererwarten angewendet werden, muss er gemäss Bundesverfassung Art. 8 Abs. 1 (Rechtsgleichheit) entgegen den verfehlten Einschätzungen des Lega-Nationalrat Lorenzo Quadri, der seinerseits das Tourismusamt in Lugano leitet, auch auf ausländische Touristinnen angewendet werden. Ob dies in der Praxis auch so gehandhabt würde, kann der Islamische Zentralrat gegebenenfalls per Stichkontrollen testen lassen.
Kantonale Behörden haben versagt
Der Islamische Zentralrat kritisiert ausserdem das Tessiner Parlament, welches es verpasst hatte, die Initiative aufgrund ihrer Unhaltbarkeit vor dem übergeordneten Verfassungsrecht a priori für ungültig zu erklären. Linke, Grüne und Teile aus der CVP wie FDP bilden mit rund 71% der Sitze eine komfortable Mehrheit im kantonalen Parlament. Auch in einer direkten Demokratie sind die Behörden in der Pflicht, die Minderheiten im Land gebührend vor den Auswüchsen populistischer Scharfmacher zu schützen. Eine Demokratie ohne Minderheitenschutz wird von der Minderheit als Tyrannei der Mehrheit erfahren und führt zu einer sozio-politischen Polarisierung zwischen Minder- und Mehrheitsgesellschaft. Nun liegt die Verantwortung bei den Bundesbehörden. Jeder weitere politische oder juristische Vorstoss in Richtung Diskriminierung der Muslime ist inakzeptabel.
Sollte sich dieser Trend einer «Islamophobisierung der Schweiz» von unten weiter fortsetzen, besteht die reelle Gefahr, dass die dadurch angeregte Polarisierung den sozialen Frieden im Land gefährdet.
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